Agafia Sacharowna Kostjutschenko, geb. 24.4.1924, gest. 22.6.2001, im August 1943 deportiert (Universitätskliniken, Schneider & Co)

Agafia Kostjutschenko wurde am 10. August 1943 aus Korosten (Ukraine, Schitomir) nach Deutschland deportiert und gelangte über das Durchgangslager Lehrte nach Göttingen. Fünfmal hatte sie zuvor versucht, der Verschleppung als Zwangsarbeiterin zu entkommen, doch als man ihr drohte, ihre ganze Familie zu erschießen, gab sie schließlich auf. In Göttingen arbeitete sie - nach eigener Aussage - zunächst in den Universitätskliniken (Hautklinik) als "Sanitäterin" zusammen mit einer älteren Deutschen: "Die Oberschwester war sehr streng". Ausweislich der Lohnkartenkartei der Universitätskliniken, in denen auch die ZwangsarbeiterInnen aufgeführt waren, war Agafia K. allerdings nur als Wäscherin in der Wäscherei der Kliniken eingesetzt, die von der Großwäscherei Schneeweiß betrieben wurde. Doch scheinen mir ihre Erinnerungen an die strenge Oberschwester doch so konkret, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass sie zumindest zeitweilig auch im Bereich der Pflege gearbeitet hat. Untergebracht war sie im Kirchweg 3 (heute Humboldtallee) - das war die offizielle Adresse der Universitätsfrauenklinik, wo man in einem gesonderten Haus eine Unterkunft für "Ostarbeiterinnen" eingerichtet hatte: "Die Russen wohnten in einem dreistöckigen Häuschen. In der 1. Etage [in Deutschland ist das das Erdgeschoss] waren Wirtschaftsräume, die zwei anderen waren bewohnt." Das Lager wurde von "Fräulein Mocker" geleitet, ein Name, an den sich auch andere Zwangsarbeiterinnen der Kliniken erinnern. Allerdings handelte es sich bei ihr nicht um ein Fräulein, sondern um eine mit einem Österreicher verheiratete Frau, die - wohl weil ihr Mann eingezogen war - zwischenzeitlich sogar im Kirchweg wohnte. Frau Kostjutschenko schrieb über Frau Mocker: "Das war eine noch nicht alte Frau, wir nannten sie Vögelchen, wegen ihrer leichten Gangart. Sie ging nicht, sie flog."

Am 20. Oktober 1943, so Frau Kostjutschenko, sei sie in die Firma Josef Schneider & Co in Weende gekommen. Zwar ist auf ihrer Lohnkarte der Kliniken eingetragen, das sie noch bis zum 1.4.1944 in der Wäscherei der Klinik gearbeitet habe, doch zitiert Frau Kostjutschenko bei der Angabe des Datums einen Satz auf Deutsch (war "bei der Firma Js. Schneider, Optische Werke, Göttingen, Weende beschäftigt"), der darauf hindeutet, dass sie deutsche Unterlagen vorliegen hatte, die das von ihr angegebene Datum vom Oktober 1943 bestätigten. Ungenaue Angaben auf Lohn- oder auch Einwohnermeldekarten sind bei der Masse der in Göttingen eingesetzten Zwangsarbeiter nichts Ungewöhnliches.
Bei Schneider wurde Frau Kostjutschenko zunächst angelernt und arbeitete dann in 12-Stunden-Schichten (Tag- und Nachschicht) wie eine "Sklavin" - so ihr eigener Ausdruck. Die Meister (oder Vorarbeiter) seien Deutsche gewesen. Ein älterer Meister habe sie gut behandelt, ein jüngerer, dem ein Fuß fehlte, "war ein Tier." Die Ernährung bei Schneider sei schlecht gewesen.
Untergebracht war sie in der "Ostarbeiterinnenbaracke" von Schneider auf dem Firmengelände. Sie erlebte einen Bombenangriff auf die Fabrik, bei der sie im Keller verschüttet wurde und erst nach einem Tag wieder ausgegraben wurde. Dabei könnte es sich um den Angriff vom 9. Februar 1945 gehandelt haben, der auch den Vorort Weende traf.

Über das Leben in Göttingen schrieb Frau Kostjutschenko: "Das Städtchen war sehr grün und sauber. Wir sind nur selten spazierengegangen. Hiner der Stadt war ein großes Lager für Russen, dort waren auch die Familien mit ihren Kindern [Gemeint ist wahrscheinlich das Lager Masch, das örtlich sehr nah am Lager Schützenplatz lag - C.T.]. Im Jahre 1944 wude die Stadt durch Bombardierungen zerstört, es gab damals viele Tote und Verletzte. Unsere Stadt wurde selten bombardiert, die Bomben fielen nur in der Umgebung."

Und über das Kriegsende: "Am 8. April 1945 wurde ich von den Amerikanern befreit. Das war eine große Freude. Sie behandelten uns gut und ernährten uns wie Menschen. Am 19. Juni 1945 wurden wir mit einem Lastkraftwagen von Göttingen in Richtung Sowjetunion gefahren. Am 5. September 1945 kam ich in Korosten an."

Und auf die Frage, wie ihr Leben in der Sowjetunion verlief: "Sehr schlecht. Wir wurden verachtet."

Frau Kostjutschenko war seit 1984 Diabetikerin und starb, bevor sie die ihr zustehende Zahlung durch die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" erhalten hatte, von der sie sich bessere Medikamente hätte kaufen können.

 

Agafia Kostjutschenko 1947

Agafia Kostjutschenko 1947 nach ihrer Zwangsarbeit in Göttingen im Alter von 23 Jahren.

Hochzeitsbild Agafia K. 3. Februar 1950

Hochzeitsbild von Agafia Kostjutschenko 1950.



Quellen:

Fragebogen und Brief Agafia Kostjutschenko, ohne Datum (Eingang 17.1.2001) mit Fotos, Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien, Korrespondenz und Foto-CD.

"Fräulein Mocker": Fragebogen und Brief Natalia Sergejewna T., geb. 10. August 1923, ohne Datum (Eingang 25.1.2001), ebenda.

Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnermelderegistratur.

Tollmien, Cordula, Nationalsozialismus in Göttingen (1933-1945), Dissertation Göttingen 1999, S. 215.

 


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