NS-Zwangsarbeiter: Anna Gural, geb. 13.12.1920, deportiert im Februar 1943 (Reichsbahn, Geburt eines Sohnes)

Anna Gural kam im im Februar 1943 als Zwangsarbeiterin nach Göttingen. Auf welche Weise beschrieb in einem Brief vom Juli 2001:

"Vor dem Oktober 1941 waren wir, mein Mann und ich, schon bereits verheiratet. Im Oktober 1941 wurde mein Mann in die Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Ich bin zu Hause geblieben. Ich habe gewusst, dass er in Göttingen lebte, weil er mir Briefe schrieb.

Im Jahre 1943 bin ich auf eine Liste für Zwangsarbeit in Deutschland geraten. Davon habe ich meinem Mann geschrieben. Mein Mann hat sich an die Verwaltung des Bahnhofs, wo er gearbeitet hat, gewandt. Er bekam ein Dokument, dass ich zur Arbeit bei Eisenbahn genommen werden würde. Mit diesem Dokument habe ich mich an den Bevollmächtigten für den Arbeitseinsatz in unserem Dorf gewandt und er hat mir die Erlaubnis gegeben, selbständig nach Deutschland zu fahren und hat mich in den Listen vermerkt. Es war für mich sehr schrecklich allein zu fahren, ohne zu wissen, wohin und wie ich eigentlich dahin kommen sollte ...

Aber ich hatte Glück. In unserem Dorf war damals ein Mann, Iwan D., der sogar im Urlaub von Deutschland war. Und ich bin mit ihm gefahren. Nach dem halben Weg mussten wir uns trennen. Ich bin nach Göttingen mit großen Schwierigkeiten angekommen. Ich habe den Deutschen meine Adresse gezeigt und sie haben mir geholfen, nach Göttingen zu gelangen."

Während ihres Besuchs gemeinsam mit ihrem Sohn Grigorij im Mai 2003 in Göttingen erzählte Anna Gural vorsichtig, wie die Reise wirklich abgelaufen warIhr Begleiter Iwan D. war wahrscheinlich ein ukrainischer Kollaborateur, so deutete Anna Gural es jedenfalls vorsichtig an. Er verließ sie auf halber Strecke und sie musste allein weiterfahren. Dabei verpasste sie den Ausstieg in Göttingen; fuhr bis zur Endstation und erfuhr dann, dass sie falsch war. Also zurück: Offensichtlich fuhr sie noch mehrmal falsch, bis sie endlich eine Ukrainerin traf, die sie richtig in Göttingen absetzte. Die ganze Reise - das wurde sehr deutlich - war ein einziger Albtraum für sie. Im Übrigen berichtete sie bei ihrem Besuch in Göttingen auch, dass sie erschossen worden wäre, wenn sie nicht nach Deutschland gefahren wäre. Weil sie allein gefahren ist, tauchte in den Gesprächen in Göttingen immer mal wieder der Verdacht auf, dass sie freiwillig nach Deutschland gegangen sei.

Anna Gural arbeitete wie ihr Mann bei der Reichsbahn, in der Kantine. Untergebracht war sie zunächst mit ihrem Mann in der Reichsbahnbaracke in der Güterbahnhofsstraße. Anna Gural schrieb dazu:

"Im Lager sind wir nicht gewesen. Zuerst wohnten wir in einer Baracke beim Bahnhof. Die Baracke war lang. In der Mitte war ein Korridor, auf beiden Seiten waren die Zimmer, in denen je 4 Menschen wohnten. Wie viele Bewohner es gab, daran erinnere ich mich nicht."

Weil Anna Gural und ihr Mann Iwan Gural Westukrainer waren und wahrscheinlich weil ein Ehepaar in der sonst nur von Männern bewohnten Baracke störte, durften sie im April 1943 in ein Privatzimmer in der Himmelsbreite 8 d umziehen (das ist die Adresse eine Baracke im Göttinger Ebertal, einem bis in die 1970er Jahre zu Wohnzwecken genutzten ehemaligen Kriegsgefangenelager aus dem Ersten Weltkrieg). Dort bekam Anna Gural am 6. April 1944 einen Sohn, bei der Geburt half ihr die Göttinger Hebamme Hanna Adelung, die fast alle der über 300 Kinder, die während des Krieges in Göttingen von Zwangsarbeiterinnen geboren wurden, zur Welt brachte. In der Regel mussten die Zwangsarbeiterinnen aus Polen und der Sowjetunion ihre Kinder in der speziell für Polen und Ostarbeiter eingerichteten Krankenbaracke zur Welt bringen. Anna Gural dagegen hatte eine der wenigen Hausgeburten:

"Die Hebamme Hanna Adelung war eine gute und freundliche Frau. Wie sie zu mir gekommen ist, erinnere ich mich nicht genau, aber ich denke, dass ich mich vor der Geburt in der Stadtklinik registrieren lassen musste. Nach der Registrierung ist die Hebamme ein paar Mal vor der Geburt und ein paar Mal nach der Geburt zu mir gekommen. Wie viele Male sie gekommen ist, erinnere ich mich nicht, aber viele Male. Damals wohnten mein Mann und ich etwa 1 km von der Stadt entfernt. Mein Mann und ich wohnten in der Adresse: Himmelsbreite 8, zusammen mit der Wohnungswirtin, an ihren Namen erinnere ich mich nicht. Andere Bewohner gab es keine. Ich arbeitete bis zu 3-5 Tage vor der Geburt. (Genau erinnere ich mich nicht). Kleidung für Schwangere habe ich keine bekommen. Während der Schwangerschaft habe ich mich normal gefühlt. Außer der Hebamme hatte ich keinen Besuch. Andere Schwangere in Göttingen kannte ich keine. Nach der Geburt kümmerte ich allein um den Sohn, weil ich nicht arbeitete. Für die Ernährung meines Sohnes habe ich eine Karte bekommen. Kleidung und Windeln kaufte ich selbst."

Ab November 1944 wohnte Familie Gural in der Oberen Masch 10, das war das ehemalige Gemeindehaus der jüdischen Gemeinde:

"Die Wohnung in der Adresse Obere Maschstraße 10 war die Wohnung einer tschechischen Frau, mit deren ich in der Kantine bei der Eisenbahn gearbeitet habe. Dort wohnten wir nicht lange, weil das Haus durch einen Bombenangriff zerstört worden war. Danach wurden die Bewohner dieses Hauses für einige Tage in einer Schule einquartiert. Dorthin wurde für uns Essen angeliefert. Nach einigen Tage gab man uns eine Wohnung in der Zindelstrasse , im 2. Stock. Wahrscheinlich, war das Haus von der Eisenbahn. Dort wohnten wir in einem kleinen Zimmer. In demselben Haus wohnten auch Deutsche. Die Beziehungen von den Nachbarn zu uns waren gut."

Über die Zeit nach dem Krieg, in der die in Deutschland geborenen Kinder, selbst wenn sie einen ukrainischen Vater hatten und wie in diesem Fall sogar ehelich waren, massiver Benachteiligung und teilweise sogar Verfolgung ausgesetzt waren, schrieb Anna Gural:

"Die Tatsache, dass unser Sohn in Deutschland geboren wurde, haben wir in den Dokumenten nicht angegeben, weil dies für unseren Sohn große Schwierigkeiten hätte bedeuten können. Unser Sohn hat in der Schule gelernt, in der Armee gedient, und es war die Zeit nach dem Krieg. Erst im Jahre 1999 hat er sich Dokumente ausstellen lassen, dass er in Deutschland in Göttingen geboren wurde."

Iwan, Anna und Grigorij Gural nach dem Krieg, um 1947

Anna und Grigorij Gural am Standort seines Geburtshauses bei ihrem Besuch in Göttingen im Mai 2003 (Foto Cordula Tollmien)

Grigorij und Anna Gural vor dem Plan des Kriegsgefangenlagers Ebertal bei ihrem Besuch in Göttingen im Mai 2003 (Foto Cordula Tollmien)


 

Quellen:

Einwohnermeldekarte Iwan Gural (Johann Goral), geb. 21.12.1916, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnerregistratur

Fragebogen und Brief Anna und Grigorij Gural o.D. (Eingang 13.7.2001), Aufzeichnungen von mündlichen Berichten 14.,16. und 17.5.2003, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32-Tollmien, Korrespondenz und Fotos


 


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