NS-Zwangsarbeit: Hausschwangere

Trotz der Einrichtung der Krankenbaracke Ludendorffring 20 b und der damit nun zumindest weitgehend praktizierten Trennung von "fremdvölkischen" Arbeitskräften und deutschen "Volksgenossen" geriet die Göttinger Frauenklinik im Frühjahr 1944 erneut in eine Auseinandersetzung mit der NSDAP. Der Aufstellung der Krankenbaracke war 1942 eine Beschwerde des Göttinger Kreisleiters der NSDAP wegen der Zusammenlegung "fremdstämmiger Kranker, namentlich aus dem Osten" mit Deutschen vorangegangen. Die neuerlichen Auseinandersetzungen im Jahre 1944 muteten nun wie eine Neuauflage dieses Konflikts vom Sommer 1942 an, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Denn diesmal wurde der Klinik nicht vorgeworfen, "fremdländische" Kranke wie Deutsche zu behandeln, sondern sich an "rassisch wertvollen" Müttern vergreifen zu wollen. Dazu muss man wissen, dass die Klinik seit alters her für die Ausbildung ihrer Studenten und Hebammen sog. Hausschwangere einsetzte, d.h. ledige mittellose Schwangere wurden vor und nach der Entbindung im Krankenhaus beschäftigt, um dort zu "Lehrzwecken" zu entbinden. Nun war es im April 1944 offenbar zu einer Absprache zwischen der Bezirksregierung in Hildesheim und der Klinikleitung gekommen, nach der die Klinik auch werdende Mütter aus dem in Göttingen von der NSV unterhaltenen Heim für ledige Schwangere für ihre Ausbildungszwecke nutzen könne. Während der Kriegsjahre waren der NSV immer weitergehende Betreuungsaufgaben im Breich der Säuglings- und Mütterfürsorge übertragen worden und ihr Zugriff auf die entsprechende Einrichtungen hatte sich, teilweise in offener Konkurrenz zu staatlichen, kommunalen oder konfessionellen Institutionen, im Jahre 1944 noch einmal verstärkt. In Göttingen kam es deswegen im Januar 1944 sogar zu - allerdings erfolglosen - Protesten des Gesundheitsamtes, das die traditionelle und bewährte Säuglingsfürsorge in der Stadt gefährdet sah. Eigentlich sollte die NSV nur Bedarfslücken schließen, doch - nicht nur in Göttingen - sah sie ihre Aufgabe offenbar in einer umfassende Betreuung und Kontrolle aller "rassisch wertvollen" Mütter und Säuglinge. Entsprechend fiel auch ihr Protest gegen die Pläne des Leiters der Frauenklinik, Prof. Dr. Martius aus, die in ihrem Heim untergebrachten Mütter zu Lehrzwecken einzusetzen:

"Zur näheren Erläuterung über das Heim in Göttingen", so schrieb der Leiter des Amtes für Volkswohlfahrt in seinem nebenstehenden Brief vom 7. April 1944 an die NSDAP-Gauleitung, "muss ich sagen, dass die dort zur Aufnahme kommenden ledigen Mütter ähnlich wie die im 'Lebensborn' eine Auslese darstellen und es auf keinen Fall in Frage kommt, dass diese als 'Hausschwangere' zur Verfügung gestellt werden. Obwohl die dort zur Aufnahme kommenden Mütter zum grössten Teil nicht verheiratet sind, dürften diese in vielen Fällen wertvoller sein als die Privatpatienten, die Herr Prof. Martius in unser Heim schieben möchte. Da im übrigen das NSV-Heim in Göttingen eine Reichseinrichtung ist und nicht nur aus dem Gau Südhannover-Braunschweig, sondern aus fast allen Gauen des Reiches beschickt wird, kommt eine Änderung der Zweckbestimmung schon aus diesem Grunde nicht in Frage.
Wenn Prof. Martius seit einiger Zeit einen Mangel an 'Hausschwangeren' hat, was ich ihm ohne weiteres glaube, mag er als Versuchsobjekt fremdvölkische Frauen heranziehen, die ja in genügender Anzahl zur Verfügung stehen."

Die NSV empfahl Martius also genau das, was durch die Einrichtung der Krankenbaracke im Ludendorffring 20 b, die ja auf wesentliche Initiative der NSDAP geschehen war, gerade verhindert werden sollte: Nämlich verstärkt Ostarbeiterinnen in die Frauenklinik zu holen. Dies entsprach jedoch den Bestimmungen eines Erlasses des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (GBA) vom 20. März 1943, in dem neben der Entbindung in Betriebsbaracken explizit auch die Aufnahme von Ostarbeiterinnen in Krankenhäusern und Kliniken als Hausschwangere gestattet war. Aufgrund des allgemeinen Mangels an Hausschwangeren in den Kliniken hatte der GBA am 4.11.1943 diesen Erlass dann noch einmal dahingehend verstärkt, dass die Arbeitsämter anwies, dafür zu sorgen, "dass den Anstalten genügend schwangere Ausländerinnen als Hausschwangere zugewiesen werden." Genau dies aber - die Aufnahme von "Ostarbeiterinnen" als Hausschwangere in das Krankenhaus selbst, was für - trotz der Belastungen durch die häufigen und oft entwürdigenden öffentlichen Untersuchungen natürlich verglichen mit der Lagerunterbringung eine Verbesserung ihrer Lage hätte bedeutet können - konnte oder wollte die Göttinger Frauenklinik nicht zulassen.
Da eine Unterbringungsmöglichkeit der schwangeren Ostarbeiterinnen in der Universitätsfrauenklinik unter Trennung von deutschen Schwangeren aus Raummangel nicht möglich sei und auch keine Entbindungsbaracke neben der Frauenklinik errichtet werden könne, bitte man stattdessen, so der Oberarzt der Klinik, Prof. Dr. Werner Bickenbach, die bisherige Regelung beizubehalten, nach der die schwangeren Ostarbeiterinnen, die in der Frauenklinik zu Lehrzwecken entbinden sollten, dem Gemeinschaftlager Schützenplatz zugewiesen werden. Es sei jedoch wünschenswert, dass dem Lager mehr Schwangere als bisher zugewiesen werden (zur Zeit befänden sich dort nur zwei, das Lager könne aber leicht zehn Schwangere aufnehmen), "damit wir bei der grossen Zahl der Studenten in noch höherem Masse auf die schwangeren Ostarbeiterinenn zu Lehrzwecken zurückgreifen können."
"Ich bitte", schrieb daraufhin der durch den Universitätskurator informierte Oberpräsident der Provinz Hannover am 13.6.1944 an den Präsidenten des Gauarbeitsamtes, "dem Wunsche der Klinik zu entsprechen".

Beschwerde des Amtes für Volkswohlfahrt über den Einsatz von "rassisch wervollen" Müttern aus dem Göttinger NSV-Heim als "Hausschwangere" (7.4.1944).

Das NSV-Heim befand sich im Kirchweg 14 (heute Humboldallee), also in unmittelbarer Nähe der Frauenklinik (Kirchweg 3). Es entbanden dort nicht nur deutsche Frauen aus dem gesamten Reich, sondern beispielsweise auch eine dänische und eine slowakische Frau.

Die Empfehlung des Oberpräsidenten des Provinz Hannover dem Wunsch der Universitätsfrauenklinik, auf verstärkte Zuweisung von schwangeren "Ostarbeiterinnen" in das Lager Schützenplatz zu entsprechen (13.6.1944).

 

Ob dies tatsächlich geschehen ist, ist allerdings zweifelhaft, und wenn überhaupt, dann wurde dem Wunsch der Frauenklinik nur in sehr geringem Umfang entsprochen: Zwar hatte in den ersten Monaten des Jahres 1944 (der Briefwechsel hatte im April 1944 begonnen) nur eine Frau aus dem Lager Schützenplatz entbunden (nicht berücksichtigt sind dabei die acht Geburten von Landkreiszwangsarbeiterinnen im Januar 1944, da diese sich jeweils nur für die Geburt sehr kurze Zeit im Lager Schützenplatz aufhielten) und im Mai 1944, als Bickenbach seinen Brief schrieb, waren - nach dem Geburtszeitpunkt ihrer Kinder zu schließen - wohl tatsächlich nur zwei schwangere Frauen im Lager. Zwischen Juli und November 1944 brachten dann immerhin sechs Frauen aus dem Lager Schützenplatz ein Kind zur Welt. Doch ist nicht ersichtlich, dass diese Frauen erst auf Bickenbachs Forderung dem Lager zugewiesen worden bzw. erst nach Bickenbachs Brief vom Mai 1944 in das Lager gekommen wären. Es spricht im Gegenteil einiges dafür, dass diese sechs Frauen alle schon seit längerer Zeit im Lager Schützenplatz waren. Das bedeutet natürlich nicht, dass diese nicht der Göttinger Frauenklinik für Vorführungen vor den Studenten zur Verfügung zu stehen hatten. Keine dieser Frauen durfte übrigens in der Frauenklinik entbinden. Sie wurden alle in den Ludendorffring 20 b geschickt. Das bedeutet, dass man die schwangeren Frauen aus dem Lager Schützenplatz nur vor der Geburt fallweise für Untersuchungen im Unterricht heranzog, und den "fremdländischen Versuchsobjekten" damit neben der (gesetzlich möglichen) Unterbringung während der letzten Schwangerschaftswochen in der Frauenklinik auch die andere mögliche Erleichterung ihrer doch für jeden Arzt und Studenten eigentlich leicht erkennbaren verzweifelten Situation verwehrte, nämlich unter den ungleich besseren Bedingungen in der Frauenklinik zu entbinden.

Über die Anzahl der in der Frauenklinik eingesetzten Hausschwangeren sind genaue Erkenntnisse nur sehr schwer zu gewinnen. Das diese in den Patientenlisten nicht gesondert ausgewiesen wurden, kann man nur von der längeren Aufenthaltsdauer der Frauen auf eine eventuelle Aufnahme als Hausschwangere schließen. Für das Jahr 1943 kommt man so auf zehn ausländische Hausschwangere (drei "Ostarbeiterinnen", vier Polinnen, 1 Holländerin, 1 Slowakin und eine Slowenin aus dem "Rückkehrerlager" in Gieboldehausen), die alle jeweils mehrere Wochen vor der Geburt schon in die Frauenklinik kamen. Bei 8 dieser Frauen findet sich der Vermerk "Untersuchung druch Hebammenschülerinnen" in den Geburtenbüchern der Frauenklinik. Für 1944 wurde diese zusätzliche Informationsquelle nicht erhoben, daher blieb für dieses Jahr nur das Kriterium der Aufenthaltsdauer. Demnach wären in diesem Jahr nur zwei Hausschwangere mit ungeklärter Nationalität (also keine Deutschen) in der Frauenklinik untergebracht gewesen: Eine Staatenlose aus der Westukraine und eine im Geburtenbuch der Frauenklinik als Polin geführte Frau aus Langendamm (Kreis Nienburg), deren Kind aber als deutsch registriert war. Wieviele mittellose deutsche Frauen 1944 in der Frauenklinik als Hausschwangere arbeiteten, ist ebenfalls nicht bekannt.

Der Einsatz von von mittellosen schwangeren Frauen als lebendige Anschauungs- und Studienobjekte ist keine Erfindung der NS-Zeit. "Hausschwangere" gab es in den Kliniken schon vorher und auch noch lange nach dem Krieg bis in die 1960er Jahre wurde diese für Mutter und Kind keineswegs ungefährliche Praxis ausgeübt. Frauen wurden damit zweifellos zu "Versuchsobjekten", aber - und dies verdient hervorgehoben zu werden - dies war Teil einer allgemeinen frauenverachtenden und -missbrauchenden Praxis und kein Spezifikum des Zwangsarbeitereinsatzes der NS-Zeit. Natürlich waren die Bedingungen für die Zwangsarbeiterinnen durch die menschenverachtenden Bestimmungen von Separierung und Lagerunterbringung noch einmal sehr viel härter als für die in gleicher Weise benutzten deutschen Frauen. Dennoch ist es nicht gerechtfertigt und stellt eine unzulässige Verkürzung dar, wenn in der 2010 im Landkreis Göttingen gezeigten Ausstellung "Auf der Spur europäischer Zwangsarbeit in Südniedersachsen 1939-1945" in dem kurzen extra hervorgehobenen Abschnitt über Zwangsarbeiterinnen als Hauschwangere ein Hinweis auf diese allgemeine Praxis fehlt und zudem durch die Formulierung "wurden für wissenschaftliche Zwecke missbraucht" eine nicht gerechtfertigte Assoziation zu den in aller Regel tödlichen medizinischen Versuchen der Nationalsozialisten in den KZs hergestellt wird.


 

Literatur und Quellen:

Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen,

Geburtenbücher 1942-1945, Stadtarchiv Göttingen, Standesamtliche Unterlagen.

Aufstellung aus den Geburtenbücher der Frauenklinik Göttingen 1943/44, zusammengestellt von Mitarbeitern des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Stand 2002, überlassen von Jörg Janssen.

Amt für Volkswohlfahrt an Gaustabsamt 7.4.1944, Bickenbach an Kurator, 15.5.1944, von dort weiter an Oberpräsident am 19.5.1944, Oberpräsident an Präsident des Gauarbeitsamtes 13.6.1944, Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover Hann 122 a Nr. 3346, Bl. 46, Bl. 50 f.

Andreas Frewer / Schmidt, Wulf / Wolters, Christine, Hilfskräfte, Hausschwangere, Untersuchungsobjekte. Der Umgang mit Zwangsarbeitenden an der Universitätsfrauenklinik Göttingen, in: Andreas Frewer / Günther Siedbürger (Hg.), Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von „Ausländern“ im Gesundheitswesen, Frankfurt/M./New York 2004, S. 341-362, hier S. 350-353.

Norbert Moissl, Aspekte der Geburtshilfe in der Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945 am Beispiel der I. Frauenklinik der Universität München. Eine retrospektive Studie über 1.950 Geburten von 1933 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung der Einflüsse der nationalsozialistischen Ideologie und des Zweiten Weltkrieges, München 2005, S. 20 ff., S. 94.

Reiter, Raimond, Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg, Hannover 1993, S. 204 f.; S. 206 f.

Gisela Schwarze, Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im zweiten Weltkrieg, Essen 1997, S. 152.
 


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