NS-Zwangsarbeit: Landwirtschaft (Weende, Geismar und Grone)

Das Klostergut in Weende, Luftaufnahme von 1909 (private Postkartensammlung C. Tollmien)

Landwirtschaftliche Zwangsarbeiter, in erster Linie Polen waren in Göttingen fast ausschließlich in den bäuerlichen Betrieben der damals noch selbständigen Dörfer Geismar, Grone und Weende beschäftigt.

Schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland eine Tradition "Auslandspolen" als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft zu beschäftigen, die vor allem in den preußischen Ostgebieten von Bedeutung war. Verglichen damit scheinen diese polnischen Saisonarbeiter in den Göttinger Dörfern eine nur geringe Rolle gespielt zu haben. Obwohl beispielsweise in Weende und Geismar durchaus auch schon vor dem Krieg Polen arbeiteten, waren dies aufgrund der restrikten NS-Ausländerpolitik in den 1930er Jahren immer weniger geworden. So lassen sich etwa in der allerdings erst ab Januar 1940 systematisch geführten Geismaraner Ausländerliste vor Kriegsbeginn nur zwei polnische Arbeiter nachweisen; für den größten Weender Arbeitgeber, dem Klostergut, finden sich in der Göttinger Einwohnermeldekarten eine Reihe polnischer Landarbeiter vor 1933, nur noch vereinzelt jedoch nach 1933. Dennoch werden einzelne polnische Wanderarbeiter auf dem Weender Klostergut auch in den späten 30er Jahren gearbeitet haben wie auch die Gesamtzahl der Vorkriegspolen in Geismar sicher größer als zwei war. Grundsätzlich ist jedoch festzuhalten, dass die Erfahrung mit den polnischen Saisonarbeitern auf den Bauerhöfen auf die Behandlung der polnischen Zwangsarbeiter sich sowohl positiv ("wir hatten immer schon Polen") als auch negativ ("Polen sind faul und stehlen, das wissen wir aus Erfahrung") auswirken konnte. Speziell die Beschäftigung von Polen in der Landwirtschaft fand - im Gegensatz zum Einsatz aller anderen Volksgruppen und Nationalitäten als Zwangsarbeiter in den deutschen Betrieben - nicht in einem zuvor unbeschriebenen Erfahrungsraum statt.

In der ersten Phase des Krieges wurden die polnischen Zivilarbeiter wie auch die Kriegsgefangenen zum Ausgleich des dort herrschenden extremen Arbeitskräftemangel noch fast ausschließlich in der Landwirtschaft eingesetzt. Das erklärt, warum in den Städten in den ersten Kriegsmonaten nur in Ausnahmefällen polnische Kriegsgefangene oder Zivilarbeiter arbeiteten. Aus einer Statistik vom Mai 1940 wissen wir, dass in den 65 Orten des Göttinger Landkreises 639 polnische Zivilarbeiter - durchschnittlich pro Ort also 10 zivile Zwangsarbeiter - beschäftigt waren. Dabei waren die Zwangsarbeiter allerdings auf die einzelnen Landkreisorte nicht gleichmäßig verteilt worden, sowohl in Geismar als auch in Weende, die damals noch zum Landkreis Göttingen gehörten, waren deutlich mehr polnische Zwangsarbeiter beschäftigt:

Allein in Geismar arbeiteten Mitte Mai 1940 mindestens 36, vielleicht aber sogar 49 polnische Zivilarbeiter bei den dortigen Bauern. Nicht in allen Fällen ist in der uns zur Verfügung stehenden Geismaraner Ausländerliste angegeben, wann die Zwangsarbeiter Geismar wieder verlassen haben. Daher erklären sich die beiden Zahlen: 36 polnische Zivilarbeiter arbeiteten Mitte Mai 1940 sicher noch in Geismar, bei 13 weiteren ist kein Abmeldedatum angegeben. Da etwa die Hälfte der polnischen Zwangsarbeiter, die vor Mitte Mai 1940 nach Geismar kamen und bei denen wir das Abmeldedatum kennen, bis Kriegsende in Geismar blieben, können wir wohl davon ausgehen, dass Mitte Mai über 40 polnische Zivilarbeiter in Geismar arbeiteten - das waren deutlich mehr als im gesamten Stadtkreis, wo im Mai 1940 anch wie vor nur die der Firma Keim zugewiesenen Polen arbeiteten.

Ähnlich war es in Weende, obwohl wir hier keine Gesamtzahlen haben, sondern nur die Zwangsarbeiter kennen, die auf dem größten landwirtschaftlichen Gut in Weende, dem Klostergut arbeiteten: Allein auf diesem Gut waren Mitte Mai 1940 mindestens elf polnische Arbeiter beschäftigt, so dass wir sicher davon ausgehen können, dass auch in Weende die oben angegebene Durchschnittszahl überschritten wurde, wenn auch nicht so stark wie in Geismar.

Dass die meisten polnischen Arbeiter in der Landwirtschaft in Geismar arbeiteten, ist nicht verwunderlich. Denn Geismar war, obwohl große Teile seiner Bevölkerung schon damals in der gewerblichen Wirtschaft arbeiteten, mit 25 aktiven Landwirten während der Kriegszeit noch ein ausgesprochen agrarisch geprägtes Dorf (1939 betrug die Einwohnerzahl von Geismar 3286). So erhielten beispielsweise Egon Senger, der das Stadtgut in Geismar gepachtet hatte, und der Landwirt Philipp Semmelroggen von den 54 (Acht von diesen 54 wurden schon vor dem 15.5.1940 vom Arbeitsamt Göttingen auf andere Stellen im Landkreis umgesetzt, drei kamen erst im Laufe des März bzw. im April nach Geismar. Daraus erklärt sich die Differenz zwischen den oben angegebenen 49 Mitte Mai und den hier genannten 54 polnischen Arbeitern) polnischen Zivilarbeitern, die Ende Februar 1940 nach Geismar gekommen waren, allein jeweils sieben polnische Arbeiter. Sowohl das Stadtgut mit über 330 Morgen Ackerfläche und Wiesen als auch der Hof Semmelroggen mit 115 Morgen gehörten zu den größeren landwirtschaftlichen Betrieben in Geismar. Mehr als einen polnischen Arbeiter bekamen sonst nur noch der Ortsbauernführer Hermann Magerhans mit vier, und Karl Magerhans, der seit 1935 Vorsitzender der Realgemeinde Geismar war, mit zwei Arbeitskräften. Ebenfalls zwei Arbeiter wurden in Geismar Nr. 98 untergebracht, einem kleinen Hof, dessen Stammhof die Nr. 76 war. Dieser Hof wurde während des Krieges von Gerda Böttcher, geb. Zimmermann bewirtschaftet und war mit fast 140 Morgen ebenfalls ein sehr großer landwirtschaftliche Betrieb. Die übrigen Bauern erhielten jeweils nur einen Arbeiter oder eine Arbeiterin, wobei allerdings in Geismar Nr. 55 und Nr. 65, dem später sog. Polenhof, insgesamt 26 polnische Arbeiter untergebracht waren, die sich nicht eindeutig einem Landwirt zuordnen lassen (20 polnische Arbeiter wohnten in der Nr. 65, 6 in der Nr. 55). Denkbar wäre, dass einige von diesen ebenfalls auf dem Stadtgut arbeiteten, denn zumindest Ende 1940 waren in der Nr. 65 nachweislich auch polnische Stadtgutarbeiter untergebracht.

Verglichen mit Geismar war Weende dagegen schon seit Beginn des Jahrhunderts sehr viel mehr eine Arbeitervorstadt von Göttingen als ein Bauerndorf. Mit der Tuchfarbrik Eberwein, der Papierfabrik Rube & Co, vor allem aber mit den Anfang des Jahrhunderts gegründeten Aluminiumwerken hatten sich in Weende drei große Fabriken angesiedelt, die nicht nur das äußere Erscheinungsbild des Ortes, sondern auch dessen soziale Wirklichkeit verändert hatten. In den Dreißiger Jahren gab es in Weende neben dem Klostergut nur noch neun Landwirte. Die meisten Weender arbeiteten entweder bei der Reichsbahn oder aber in einer der genannten Fabriken, zu denen 1941 durch Umzug aus der Göttinger Innenstadt auch noch die optischen Werke Schneider & Co hinzukamen. (1939 betrug die Einwohnerzahl von Weende 4277. Weende war also um rund 100 Einwohner größer als Geismar). Daher ist es nicht verwunderlich, dass nach Weende am Anfang des Krieges weniger landwirtschaftliche Zwangsarbeiter kamen als nach Geismar. Dennoch ist es erstaunlich, dass das von August Lohmann gepachtete Klostergut kaum mehr Arbeiter bekommen haben soll als beispielsweise das Geismaraner Stadtgut. Denn das Klostergut war - gemessen an der zu bewirtschaftenden Fläche - fast fünfmal so groß wie das Stadtgut und zudem als Saatzuchtbetrieb auch noch besonders arbeitsintensiv (1919 bewirtschaftete das Klostergut die Hälfte der Ackerfläche Weendes). Das spricht dafür, dass die angegebene Zahl von 11 polnischen Zivilarbeitern tatsächlich deutlich zu klein ist, denn die Quellen über die auf dem Klostergut beschäftigten Zwangsarbeiter stammen alle aus den Jahren 1943/44, erfasst wurden für die Frühzeit des Krieges also nur die Arbeiter, die 1943/1944 noch auf dem Hof waren. Außerdem waren in Weende anders als in Geismar ein Teil der 350 Kriegsgefangenen untergebracht, die wahrscheinlich schon im November 1939/Dez. 1939, spätestens aber im Februar 1940 in den Landkreis Göttingen gebracht worden waren. Möglich und wahrscheinlich, dass auch von diesen einige auf dem Klostergut arbeiteten. Vorstellbar ist auch, dass das Klostergut als wichtiger Saatzuchtbetrieb zumindest zu Beginn des Krieges nicht ganz so stark von den Einziehungen zur Wehrmacht betroffen war wie die anderen landwirtschaftlichen Betriebe, so dass eventuell im März 1940 auf dem Klostergut noch eine Reihe von deutschen Arbeitern tätig war.

In Grone, das bezogen auf die Einwohnerzahl 1939 fast genauso groß wie Geismar, aber deutlich kleiner als Weende war, findet sich bezüglich der Landwirtschaft mit 24 Landwirten eine ähnliche Situation wie in Geismar, bezüglich der Nähe zum Reichsbahnausbesserungswerk, den im Ort angesiedelten Physikalischen Werkstätten (Phywe AG) und den vielen Göttinger Firmen am Ortsrand, wie beispielsweise Winkel (heute Zeiss) und Spindler & Hoyer, eine eher mit Weende vergleichbare Situation. Für Grone sind aus den ersten Kriegsjahren keine Quellen über ausländische Zwangsarbeiter erhalten, wir wissen daher nur aus Zeitzeugenaussagen, dass spätestens seit Juni 1940, wahrscheinlich aber auch schon früher auch Groner Bauernhöfen polnische Zwangsarbeiter arbeiteten. Wegen des Fehlen eines landwirtschaftlichen Großbetriebs wird die Zahl der polnischen landwirtschaftlichen Arbeiter in Grone insgesamt allerdings eher gering gewesen sein.

In Geismar arbeiteten während des Krieges ingesamt um die 450 polnische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, darunter ganze Familien mit Kindern und Säuglingen. Allein in der sog. Polenkaserne (Geismar 65) waren über 130 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen untergebracht, darunter 27 Kinder im Alter von 14 und einem Jahr. Insgesamt zehn Kinder von Polinnen wurden zwischen Oktober 1940 und März 1945 in Geismar geboren, sieben davon in der "Polenkaserne"; eine Polin kam nach Geismar, deren Kind 1944 im Lager Schützenplatz geboren worden war. Eines dieser Kinder starb in Geismar ebenso wie zwei Kleinkinder von russischen Zwangsarbeitern, die beide auf dem Geismaraner Friedhof begraben sind. Weitere Todesfälle gab es in Geismar unter den Zwangsarbeitern nicht.

Auf dem Klostergut in Weende arbeiteten 1943/44 insgesamt um die 100 polnische Zwangsarbeiter. Zwei Säuglinge starben auf dem Gut in Weende, einer war in der Göttinger Krankenbaracke geboren worden; zwei polnische Zwangsarbeiterinnen aus Weende hatten vor Einrichtung der Ausländerkrankenbaracke in Göttingen 1940 noch in der Frauenklink entbinden können. Direkt nach Kriegsende im April 1945 wurden auf dem Gut in Weende drei Kinder von Polinnen geboren.
Auf dem Klostergut in Weende wurde in einer Nachkriegsaufstellung auch ein "größerer Kräftebestand" von "Ostarbeitern" registriert.

Für Grone liegen keine Zahlen vor.

Siehe auch die Erinnerungen polnischer Zwangsarbeiter, die in der Landwirtschaft arbeiteten

Zu den ersten polnischen Zwangsarbeitern in Geismar, Grone und Weende ausführlich
Cordula Tollmien: "Die Überwachung der polnischen Arbeitskräfte wird nach wie vor täglich ausgeübt" - polnische Zwangsarbeiter in Göttingen von November 1939 bis Frühsommer 1940, unveröffentlichtes Manuskript 2004 (mit geringfügigen Änderungen im September 2011).

Speziell in der Landwirtschaft arbeiteten viele Kinder. Hier ein 14jähriger Tscheche auf dem Stadtgut in Rosdorf, der von dem deutschen Melker auf dem Gut verhöhnt und misshandelt wurde.


Literatur und Quellen:

Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnermelderegistratur.
Adressbuch der Stadt Göttingen 1937 und 1939.
Statistik o.D. (Mai 1940), Stadtarchiv Göttingen Pol.Dir. Fach 124 Nr. 12, Bl. 146.

Ausländerliste Geismar 1940-1945 (mit zum Teil auch älteren Einträgen), Stadtarchiv Göttingen Geismar Nr. 716.
Geburtenbuch und Sterbebuch Geismar 1940-1945, Stadtarchiv Göttingen, Standesamtliche Unterlagen.
Gemeindedirektor an Landkreis 27.7.1949, Stadtarchiv Göttingen Geismar Nr. 705, Sign. 123-51/3.
Auskünfte der Ortsheimatpflegerin von Geismar Vera Lenz am 20.2.2003 auf der Grundlage der Geismaraner Häuserkartei.
Ewald Dawe, Geismar. Platz der sprudelnden Quellen. Band I Von den Anfängen bis 1946, Göttingen 1987, S. 62, S. 237, S. 247 f., S. 288.

Behörden A-Z 1943/44, Korrespondenz Lohmann 1945/46 (darunter beispielsweise eine Aufstellung vom 11.3.1944, Stadtarchiv Göttingen Weende Nr. 1246 und 1247.
Familie Lohmann 60 Jahre auf Klostergut Weende. Göttinger Tageblatt 5.4.1968.
Lager von Kriegsgefangenen ausländischer Zivilarbeier im Landkreis Göttingen 21.4.1945, Stadtarchiv Göttingen AHR I A Fach 48 Nr. 3, Bl. 122.
Geburtenbuch und Sterbebuch Weende 1940-1945, Stadtarchiv Göttingen, Standesamtliche Unterlagen.

Geburtenbuch Göttingen 1940-1945, Stadtarchiv Göttingen, Standesamtliche Unterlagen.
Foto aus Briefwechsel mit Klawdia Maichailowna P., geb. 3.11.1926, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32-Tollmien, Fotos.

Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880-1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin / Bonn 1986, passim.
Jan Motte, Sport und Integration. Die Bedeutung von Sportvereinen für die Eingliederung von Zuwanderern nach 1945 - Eine Untersuchung im Raum Göttingen. Magisterarbeit des Hist.-Phil. Fachbereichs der Universität Göttingen, Göttingen 1993 (Manuskript), S. 35. S. 38.
Horst Kahrs, Verstaatlichung der polnischen Arbeitsmigration nach Deutschland in der Zwischenkriegszeit. Menschenschmuggel und Massenabschiebungen als Kehrseite des nationalisierten Arbeitsmarktes, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 11 Thema: Arbeitsmigration und Flucht (1993), S. 130-194, hier S. 171-178.
Uta Schäfer-Richter, Eine Arbeitervorstadt entsteht. Weendes Weg in das Industriezeitalter (1830-1918), Göttingen 1998, passim und insb. S. 39 f., S. 120-137, S. 284, S. 301.

 


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