NS-Zwangsarbeit: Lidia Fjodorowna P., geb. 8.8.1925, deportiert im Juli 1942 (Haushalt, Winkel)

Lidia Fjodorowna Pompenko, geb. 8.8.1925, arbeitete vom 29.8.1944 bis Kriegsende bei Winkel & Co; vorher war sie als Haushaltshilfe bei der Familie Jentsch, erst in Münster, dann in Göttingen.

Sie schrieb über ihre Deportation und ihre Zwangsarbeit in Göttingen im November 2001 einen ausführlichen Brief:

"Vor dem Krieg wohnte unsere Familie in Dnepropetrowsk. Als der Front zu uns kam, wurden wir ins Dorf Bolschaja Nikolajewka, Nowomoskowskij Bez., Dnepropetrowskaja Geb., evakuiert. Mein Vater wurde eingezogen, während ich und meine drei Schwestern bei der Mutter blieben. Ende Mai 1942, als unsere Gebiet besetzt wurde, hat der Dorfverwalter in Begleitung von deutschen Soldaten die Jugendlichen versammelt, um sie nach Deutschland in die Zwangsarbeit zu schicken. Von unsere Familie wurde ich genommen, weil ich die älteste von allen Schwestern war.

Um die Verschleppung nach Deutschland zu vermeiden, habe ich folgendes unternommen: Ich habe in der Nacht an meine Füße die Kupfermünzen gelegt, die mit Knoblauch und „blauen Stein“ [vermutlich Vitriol - C.T.] eingerieben waren. Am Morgen waren an diesen Stellen tiefe Wunden entstanden, je 8 Stück an jedem Fuß. Im Juni sind sie gekommen, um mich zur Abfahrt nach Deutschland mitzunehmen. Zu dieser Zeit waren meine Füße geschwollen und ich konnte mich nicht mehr bewegen.
Der Dorfverwalter hat sich meine Füße angeguckt und dann gesagt, wenn ich nicht nach Deutschland fahren werde, wird meine ganze Familie erschossen werden. Ich wurde aus dem Haus geschleppt, in ein Fuhrwerk gesetzt und in die Stadt Nowomoskowsk gefahren, wo eine medizinische Kommission und ein Sammelpunkt gewesen sind.
Die medizinische Untersuchung wurde von einem deutschen Arzt durchgeführt, der vor dem Krieg in der deutschen Kolonie in der Stadt Melitipol gelebt hatte. Er hat durchschaut, was ich mit meinen Füßen gemacht habe, und hat mir erklärt, wenn jetzt nichts mit den Füßen gemacht wird, werde ich eine Blutvergiftung bekommen und daran sterben. Wenn er aber die Füße behandeln, werde ich nach Deutschland fahren müssen. Dann hat er meine Wunde gespült und verbunden.

Nach Deutschland fuhren wir zwei Wochen lang in einem Güterwagen. In dem Zug gab es nur die jungen Mädchen.

Nachdem wir in Deutschland angekommen sind, in der Stadt Münster, wurden wir in einer Militärkaserne untergebracht. Alle Mädchen wurden ausgewählt, aber ich blieb und wohnte dort noch eine Woche lang, weil ich wegen meiner kranken Füßen zu keiner Arbeit eingeteilt wurde . Dann ist Frau Marlis Jentsch gekommen und hat mich mitgenommen und als Hausmädchen in ihrem Haus eingestellt. [Die Famlie zog im Sommer 1943 nach Göttingen - C.T.]
Sie hat meine Füße behandelt, so gut es möglich war. In der Familie Jentsch gab es drei Kinder [zwei Jungen und ein Mädchen - C.T.]. Am Kriegsende wurde noch ein Mädchen geboren, aber ich habe sie nicht mehr erlebt.
In dieser Familie habe ich sehr schwer gearbeitet, von 5 bis 24 Uhr, weil ich gezwungen war, die ganze Hausarbeit und die Pflege der Kinder allein machen zu müssen.
Die Beziehungen zu mir waren aber gut. Ich habe schnell die deutsche Sprache gelernt, weil ich mich mit Frau Jentsch und ihren Kinder unterhielt. Im Jahre 1944 konnte ich schon die Zeitungen lesen. Heute habe ich die deutsche Sprache vergessen.
Als die Stadt Münster durch den Amerikaner bombardiert wurde, ist die Familie Jentsch nach Göttingen umgezogen und hat mich mitgenommen. In Göttingen hat Frau Jentsch ihre Großmutter aus einem Kloster zu sich genommen und ich war gezwungen, auch sie zu pflegen.
Der Mann von Frau Jentsch war ein Offizier und ist (wenn ich mich nicht täusche ) bei Belaja Zerkow (nicht weit von Kiew) gefallen.

Als die Front näher rückte, wurde ich in die Fabrik [Winkel] gebracht, das war im Sommer 1944. Frau Jentsch kam regelmäßig zu mir ins Lager [Schützenplatz] und half mir mit Lebensmitteln. Wenn ich von ihr keine Hilfe bekommen hätte, wäre ich verhungert. Einige Zeit später hat Frau Jentsch für mich einen Ausweis besorgt und ich begann wieder sonntags bei ihr zu Hause zu arbeiten. Samstag nachmittag ging ich zu Frau Jentsch arbeiten und kam montags gleich zurück ins Werk .

Nach der Befreiung am Frühling 1945 durch die amerikanische Armee, habe ich mich lange Zeit in einem Durchgangslager aufgehalten. Manchmal machte ich einen Besuch bei Frau Jentsch.

Nach Kriegsende bin ich in meine Heimat zurückgekehrt. Einige Zeit arbeitete ich im Kolchos, dann einige Jahre bei der Eisenbahn. 1953 heiratete ich. Mein Mann war ein Kriegsinvalide, er hatte keine rechte Hand, im Jahre 1955 starb er. 12 Jahre lang arbeitete ich als Maschinistin am Fließband in einem Bergbauunternehmen. Seit 1972 bin ich Rentnerin. Ich habe 3 Söhne."

Auf der Rückseite des Fotos befindet sich ein schwacher Stempel: 14. Jan. 1944; das Ostzeichen wurde aus dem Foto herausgekratzt, um zu verbergen, dass sie in Deutschland als Zwangsarbeiterin gewesen war. Aber natürlich war dies dennoch sofort erkennbar.



Quellen:

Fragebogen Lida Fjodorowna., geb. 8.8.1925, ohne Datum (Eingang 20.11.2001), Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien, Korrespondenz und Foto-CD.

Betriebskartei Winkel, Stadtarchiv Göttingen, Kleine Erwerbung 192.

 


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