NS-Zwangsarbeit: Pjotr Stepanowitsch M., geb. 28.4.1924, deportiert im Mai 1942 (Reichsbahn, nach zwei Monaten Flucht)

Pjotr Stepanowitsch M., der im Mai 1942 aus Berdjansk nach Deutschland verschleppt wurde, beschrieb im Januar 2001 wie er gemeinsam mit tausenden von Mitbürgern verschleppt wurde:

"Ich war in der 9. Klasse. Alle Jungen meines Alters waren in die Listen des Arbeitsamt eingetragen. Alle arbeitsfähigen Leute wurden von der Besatzungsmacht mit der Drohung, sonst verhaftet zu werden, gewaltsam nach Deutschland verschleppt. Wir wurden unter Bewachung von deutscher und örtlicher Polizei zu Fuß bis nach Militopol getrieben, dann wurden wir in Güterwagen geladen und nach Deutschland gefahren. In Polen wurden wir medizinisch überprüft. In Deutschland kamen wir in ein Gefangenenlager in der Nähe von Hamburg. Dort wohnten wir als Kriegsgefangene und wurden als solche ernährt. Dann wurde für uns einem Vertreter des jeweiligen Unternehmens Beruf (Tätigkeit) und Arbeitsplatz festgelegt."

Zuerst wurden keine Verwandten verschleppt. Nach dem ersten Durchgang begannen die Deutschen alle Arbeitsfähigen aus den Schulen und anderen Organisationen zu verschleppen. Gleichzeitig mit mir wurden etwa 1000 Menschen deportiert, dann wurden wiederholt Mobilisationen durchgeführt und noch einmal nicht weniger als 1000 Menschen verschleppt. Und genauso geschah es in den Jahren 1942/43. Meine Mitschüler wurden alle aus der Stadt deportiert mit Ausnahmen derjenigen, die krank waren oder sich bei anderen Beschäftigungen versteckt hatten."

Pjotr Stepanowitsch arbeitete in Göttingen als Schlosser bei der Reichsbahn:

"Das Werk befand sich in der Nähe vom Bahnhof. In der Abteilung arbeiten wir unter Bewachung eines deutschen Arbeiters und Meisters. Unser Essen war schlecht: Rüben, Brot und Butter- 10 gr, Kaffee aus Eichenrinde, Brei - wir lebten in einer Art Halbhunger. Neben dem Werk wurde ein typische Holzbaracke gebaut und dort wurden wir untergebracht. Dort gab es Polizeibewachung. Von den Baracken und bis zur Werksabteilungen wurden wir von der Polizei geführt. In der Baracke wohnten nur Männer, 100 Menschen. Von den 100 Menschen waren 50% waren zwischen 25 und 40 Jahre alt, die übrigen waren Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren, alle aus der Stadt Berdjansk."

Es ist nicht ganz klar, um welche Baracke es sich dabei handelte: Am wahrscheinlichsten ist, dass Pjotr Stepanowitsch in der Reichsbahnbaracke in der Liebrechtstraße untergebracht war; es verwundert dann allerdings, dass wirklich alle Insassen der Baracke aus Berdjansk gestammt haben sollen. Wir haben allerdings nur Belegzahlen für den August 1944, nach denen in dieser Baracke nur Tschechen, Westukrainer und Holländer untergebracht waren. Möglich ist aber, dass der Transport, der im Mai/Juni 1942 aus Berdjansk nach Göttingen kam, zunächst vollständig in dieser Baracke untergebracht wurde, bis das große "Ostarbeiterlager" der Reichsbahn auf der Masch fertigestellt war. Da Pjotr Stepanowitsch nur im Juni/Juli 1942 in Göttingen war und sich danach auf eine abenteuerliche Flucht begab, können seine Angaben daher durchaus stimmen.

Der eng beschriebene Fragebogen von Pjotr Stepanowitsch

 

Die Übersetzung der Legende zu seiner Lagerskizze

Diese Flucht, die er gemeinsam mit einem Freund unternahm, sollte nicht seine einzige bleiben. Er beschrieb seinen abenteuerlichen Fluchtweg, der ihn wider Erwarten nicht in ein "Arbeitserziehungslager" oder ein KZ führte, mit den folgenden knappen Worten:

"Die erste Flucht war im Juli 1942 von Göttingen aus. Wir zwei wurden auf dem Bahnhof Elm, Kreis Schlüchtern [Hessen - C.T.], geschnappt und einem Bauern zur Arbeit übergeben. Von Elm aus wurde ich zu Arbeiten im Schützengraben auf der Siegfriedlinie in der Nähe von Saarbrücken geschickt. Von dort aus bin ich geflüchtet und in den Wäldern von Lothringen herumgewandert. Ich wollte mich zur Zweiten Front durchschlagen. Im Oktober 1944 als die Zweite Front den Fluss Mosel überschritt, bin ich selbständig in die amerikanische Besatzungszone gegangen und unter falschem Namen in ein Verschlepptenlager (des Roten Kreuzes) gekommen.
In diesem Lager wurden die sowjetischen Kriegsgefangenen und die zur Zwangsarbeit nach Deutschland Verschleppten herausgenommen. Unter der Leitung der Sowjetischen Militärmission in Paris wurden die Lager in den Städten Pontuas (30 km von Paris), Versailles und Argent gegründet.
Insgesamt waren in Pontoise 10.000 Menschen, in Versailles 30000 und in Argent 150 Menschen (eine Konzertgruppe - [die Bedeutung von "Konzertgruppe" ist nicht ganz klar. Meinte Pjotr Stepanowitsch tatsächlich eine Gruppe, die Musik machte, vielleicht in einem heutigen Ferienort an der Atlantikküste? - C.T.]). In diesem Lager lebten wir bis zum Ende des 2. Weltkrieges.
Im Mai 1945 begann man, uns in die Heimat zurückzuschicken. Von Pontois und Versailles wurde ein Teil der Menschen mit Schiffen von Marseilles nach Odessa geschickt. Ich wurde aus der Konzertgruppe des Lagers Argent mit dem Flugzeug in die Stadt Halle an der Saale (in der sowjetischen Besatzungszone) abtransportiert. Dort wurden wir zu Wiederaufbauarbeiten eingesetzt. Die Eisenbahn in Deutschland funktionierte noch nicht und wir, 30 Menschen, setzten uns zu Fuß, mit Militärlastwagen und Güterwagen, in Richtung UdSSR in Bewegung. Anfang Juli 1945 bin ich an die Grenze des Lwowskaja Gebiets, zur Stadt Rawa- Russkaja angekommen und in das Filtrationslager geraten. Dort wurde ich vom KGB verhört. Von Rawa-Russkaja aus habe ich die Erlaubnis bekommen, in die Stadt Berdjansk zu rückzukehren, wo mein Vater, Bruder und die Schwester wohnten. In Berdjansk bin ich im Juli 1945 angekommen."

In Berdjansk habe ich angefangen zu arbeiten und habe gleichzeitig die 10. Klasse der allgemeinbildenden Schule absolviert. Dann absolvierte ich das Landwirtschaftsinstitut in Lwow und begann mit der Arbeit als Lehrer im Technikum der Stadt Dubna. Dann bin ich mit meiner Familie in die Stadt Berdjansk gezogen und wurde in dem Technikum für die Produktion von Wein als Leiter der Lehrabteilung eingestellt. Meine Frau arbeitete in diesem Technikum als Lehrerin, die Kinder lernten in der Schule. Dort wohnten wir bis hin zum Jahre 1988. Dann sind wir in die Stadt Kiew zu unserer Tochter gezogen. Dort wohnen wir bis jetzt."

Einer der Freunde von Pjotr Stepanowitsch M., der mit ihm gleichzeitig nach Göttingen deportiert worden war und hier auch bei der Reichsbahn arbeitete, wurde am 30. Oktober 1942 in Göttingen verhaftet und über verschiedene Gefängnisse und Lager schließlich in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo er am 10. März 1945 erschossen wurde.


Quelle:

Fragebogen Pjotr Stepanowitsch M., geb. 28.4.1924, 3.1.2001, Stadtarchiv Götttingen, Sammlung 32 - Tollmien.

 


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