NS-Zwangsarbeiter- Erinerungen: Tatjana Sergejewna J., geb. 11.7.1924, Deportation August 1942 (Musterschmidt, Flakzeugamt)

Tatjana Sergejewna J., geb. 11.7.1924, wurde im August 1942 nach Deutschland deportiert:

"In meinem Dorf Lesowtschyina wurden die Mädchen nach Deutschland geschickt. Zu diesem Zweck wurde ein Mädchen ausgesucht, das den gleichen Familiennamen wie ich trug. Aber ihre Eltern waren reich und sie gaben dem Dorfvorsteher Honig und er schickte mich nach Deutschland anstatt dieses Mädchens. Zu mir nach Hause kamen der Dorfvorsteher und ein Deutscher in Uniform und befahlen mir zum Bahnhof „Utomir“ zu gehen. Meine Mutter begleitete mich und weinte. Ich wurde in den Wagen geladen und der Zug fuhr. Bei einer Brücke wurden wir in einen anderen Wagen umgeladen, weil die Brücke gesprengt worden war. Dann fuhren wir nach Schitomir und wurden wieder in einen anderen Wagen geladen. Von dort fuhren wir direkt nach Deutschland. Zu Essen bekamen wir in diesen Tagen nichts. Wir hatten etwas von zu Hause mitgenommen, das konnten wir essen.

Zuerst, von August 1942 bis Januar 1943, arbeitete ich bei der Firma Musterschmidt. Ich machte Etiketten, befestigte diese an Schnüren für die verschiedenen Erzeugnisse (Ersatzteile, Stoffe, Schuhe):
Dann vom Februar 1943 bis Kriegsende, bis Mai 1945, arbeitete ich in einem Kabelwerk [Flakzeugamt - C.T.], reparierte Kabel, die von der Front gebracht wurden. Ich habe sie vulkanisiert und auf eine Spule aufgewickelt. Die Beschriftungem machte ein ein alter Deutscher in ziviler Kleidung, der auch die Arbeit kontrollierte. Das war meine Hauptarbeit bis zum Kriegsende. Ich habe auch Schuhe, Fahrradmäntel - und schläuche u.s.w. für die örtlichen Bewohner vulkanisiert.
Die Fabrik Musterschmidt war im Zentrum der Stadt, die Kabelwerkstadt war in der Umgebung der Stadt. Die großen Abteilungen nicht weit vom Flughafen entfernt.
Ich wohnte immer in demselben Lager [Lager Schützenplatz - C.T.], in derselben Baracke.

Bei Musterschmidt arbeitete auch Marina A. aus dem Dorf Iwanowka. Sie war psychisch krank (eine Sanfte). Die Deutschen dachten, dass sie sich verstelle und schlugen sie. Dann wurde sie im Psychatriekrankenhaus behandelt und kam in die die Heimat zurück. Außerdem war dort auch Katja aus dem Dorf Lesowtschina (an den Nachnamen erinnere ich mich nicht). Zusammen mit mir arbeitete sie bei Musterschmidt, in der Farbabteilung; sie war 4-5 Jahre älter als ich. Nina S. aus dem Dorf Iwanowka arbeitete auch mit mir bei Musterschmidt, sie war tuberkulosekrank. Sie wurde in Deutschland behandelt und in die Heimat zurückgeschickt.

In der Fabrik Musterschmidt gab es einen Vorgesetzten, Willi Otto, ein guter Mensch. In der Kabelwerkstadt gab es einen Vorgesetzten Oberfeldwebel Franz Willi, auch ein guter Mensch.

Ein Mann, namens Hans, hat mich mit den Peitsche geprügelt, weil ich nachts während des Alarms einen Lauf von den Geschützen nicht aufheben konnte. Er war in Uniform, mit Brille, etwa 40-45 Jahre alt. Diese Arbeit nachts war brutal: Denn wir wurden manchmal nachts bei Alarm zum Einladen von schwerem Artilleriezubehör gezwungen. Ich war damals sehr klein und für mich war das eine unerträgliche Arbeit. Dafür wurde ich mit der Peitsche geprügelt. Manchmal halfen uns die mitarbeitenden [deutschen] Frauen oder Mädchen.

Ich hatte Kontakt mit deutschen Frauen. Sie nahmen mich mit, damit ich ihnen bei den Hausarbeiten half. Die Beziehungen zu mir waren gut, sie versuchten, mich zu bezahlen. Dann führten sie mich ins Lager zurück. Einen Sonntag nahm mich ein deutsche Mädchen und fuhr mich in einen schönen Park. Dort waren viele schöne Blumen. Dann führte sie mich ins Lager zurück. Einmal wurde ich von meinen Chef, Franz Willi, zum Mittagessen eingeladen. Wir aßen im Kreis der Familie. Dann brachte er mich wieder zum Werk zurück."

Über das Essen:

Bei Musterschmidt waren Kartoffeln gelagert und wir aßen diese. In der Kabelwerkstatt gab man uns gekochte Rüben (getrocknet) im Keller zu Essen. Im Keller war eine Kantine. Dort roch es schrecklich, man konnte kaum atmen. Zu Essen gab es einmal pro Tag - aus roten Schüsseln mit Henkel. Das war nur für meine Nationalität „Ostarbeiter“ (Stechrüm) [die letzten beiden Wörter auf deutsch in lateinischer Schrift - C.T.]. Für die andere Nationalitäten gab es besseres Essen und Kantinen.
Ich hatte immer Hunger. In meinen Träumen roch ich den Geruch von Brot.
Der Chef der Kabelwerkstatt Franz Willi brachte mir manchmal ein Butterbrot dafür, da ich für sein Kaninchen etwas zum Fressen gesammelt hatte."

Über das Lager:

An den Namen des Lagers erinnere ich mich nicht. Es war speziell für Ostarbeiter [im Original auf deutsch in lateinischer Schrift - C.T.]. Rings um das Lager waren kleine Kanäle, alle ordentlich gesäubert.
Es gab am Eingang ein Wachhäuschen. Die Wachleute waren Deutsche, drei bis vier Menschen pro Schicht.
Mitten in dem Lager waren viele Baracken, jede hatte eine Nummer, sie waren aus Holz gemacht. In jedem Raum war ein Ofen, die Betten waren 2-stöckig. Es gab sehr viele Baracken, für Männer und Frauen getrennt. Auch damals wusste ich nicht, wie viele Räume es in einer Baracke gab. Ich wusste nur, wo meine Baracke und wo mein Zimmer war. In jeden Zimmer wohnten 20 Menschen.
Wir konnten uns nicht regelmässig waschen. Das Waschbecken war unbequem. Es gab eine Toilette, für Männer und für Frauen. Im Winter, wenn wir zu der Kabelwerkstatt getrieben wurden, wurden wir, die Frauen „Ostarbeit“ [wieder auf Deutsch und in lateinischer Schrift , gemeint ist Ostarbeiterin - C.T.], voll ausgezogen und mit mit kalten Wasser aus Schläuchen abgespritzt und dann in den Waschraum getrieben."

Es handelte sich eindeutig um das Lager Schützenplatz, denn Tatjana Sergejewna schickte uns eine Reihe von Fotos mit, auf denen ihre Freundinnen abgebildet waren, mit denen sie eine Baracke teilte - und diese lebten, wie wir aus anderen Quellen wissen, im Lager Schützenplatz. Auch andere Zwangsarbeiterinnen erinnerten sich übrigens auch die Methode im Lager Schützenplatz, speziell die Frauen mit kaltem Wasser abzuspritzen und sie so nackt aus der Dusche zu treiben.

Kriegsende:

"Mich wie auch die anderen haben die Amerikaner, wie sie selbst sagten, befreit. Nach Kriegsende am 9. Mai marschierten die amerikanischen Truppen in Göttingen ein. Mit dem LKW wurden wir zum Bahnhof gefahren und weiter, durch allen Länder, nach Hause. Bevor wir abgefahren sind, haben wir in einem Keller beim Flughafen gelebt und gearbeitet. Man sagte uns, das sei Geheimarbeit, und wir hatten Angst. Wir wurden über den Fluß mit Booten gebracht, das war gefährlich, wir fuhren mit unseren Sachen hinüber. Wir wurden auf die Züge verteilt und nach Hause gefahren.

In der UdSSR wurde ich wie eine Verräterin behandelt. 3 Jahre hatte ich für den Feind gearbeitet. Es war schwer, durch das eigene Land zu gehen. Nach einiger Zeit wurde es gewöhnlich. Man sagte, ich wäre in Gefangenschaft gewesen. Das Leben war voller Unglück, alles war zerstört, Hunger, Kälte, es ab keine Kleidung ,Schuhe. Die Familie war groß, viele Kinder."

Jetzt bin ich Rentnerin, 76 Jahre alt. Ausbildung - 7 Klassen allgemeinbildender Schule. Vor der Rente und während der Rente arbeitete ich 40-45 Jahre als Kolchosearbeiterin und Hilfsarbeiterin."

Es gibt einige Erinnerungslücken in dem Bericht von Tatjana Sergejewna, so schreibt sie beispielsweise fast nichts über den Bombenangriff auf das Lager Schützenplatz am 1. Januar 1945, nichts über die Toten und Zerstörungen nur dass eine Bombe unter ihr Bett rollte, aber nicht explodierte. Doch der holländische Zwangsarbeiter Cees Louwerse, dessen Freundin Marusja mit Tatjana in einer Baracke wohnte, bestätigt in seinem Tagebuch diese Version. Dass Tatjana das Kriegsende in Göttingen auch auf den 8. Mai (statt auf den 8. April) legte, ist verständlich (viele ehemalige Zwangsarbeiter tun das), da dieses Datum als hoher Feiertag in der Sowjetunion sich in das Gedächtnis aller ehemaligen Zwangsarbeiter viel stärker eingegraben hat als der 8. April, auch wenn dieser ihre individuelle Befreiung bedeutete.

 


Noch ein Foto mit russisch-ukrainischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die mit Tatjana befreundet waren und ihr das Foto als Andenken schenkten - diesmal von einem anderen Göttinger Fotografen fotografiert. Wieder ist sie selbst auf diesem Foto nicht abgebildet, nebenstehend erklärt sie warum.

Das Bild zeigt von links nach rechts einen holländischen Zwangsarbeiter, Tatjanas Freudin Marusja, die mit ihr in einer Baracke wohnte und mit ihr im Flakzeugamt arbeitete, und deren damaligen Freund und späteren Ehemann Cees Louwerse. Das Foto wurde wie auch die drei nachfolgenden von dem Fotografen Blankhorn aufgenommen.


Zwei "Ostarbeiterinnen", die mit Tatjana Sergejewna arbeiteten.


Eine Freundin von Tatjana, die mit ihr in einer Baracke lebte.


Tatjana Sergejewna schrieb zu diesem Foto: „Auf diesem Foto ist meine Freundin Olga Kirienko aus dem Dorf Polesje, Korostenskij Bez. (es liegt in der Nähe von meinem Dorf Lesowschtschina) aufgenommen. Sie wohnte zusammen mit mir in einer Baracke, in einem Zimmer. Ihr Bett war unten und meins oben. Ihre Ecke hat Olja immer in Ordnung behalten. Sie arbeitete in der Küche, die nicht für Russen gekocht hat, sondern für die übrigen Ausländer. Dort wurde etwas besser gekocht - Kartoffeln und Rüben. Es kann sein, dass Olga mich damals gerettet hat, sie gab mir manchmal etwas zum Essen. Olgas Wohnung in Polesje existiert noch bis heute. Auf dem Foto neben Olga steht ihr Freund – Tolja. Ich glaube, er stammte aus Kamenez- Podolskji. Sie wollten damals heiraten, aber Olga ist gleich nach dem Krieg gestorben. Von Anatolij habe ich nichts mehr gehört. Auf diesem Foto bin ich nicht mit abgebildet. Ich war damals ein sehr unglückliches, kleines und immer leidendes Mädchen. Als ich von zu Hause verschleppt wurde, weinte meine Mutter sehr. Dieses bittere Gefühl, die Trennung von meiner Mutter, hat mich alle Kriegsjahre begleitet. Deswegen wollte ich nicht fotografiert werden.“

 


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