NS-Zwangsarbeit: Erinnerungen zweiter ehemaliger "Ostarbeiterinnen", deportiert im November 1942 (Feinmechanische Werkstatt August Fischer)

Raina Fjodorowna M., geb. 1.7.1924, und Pelageja Arjemowan D., geb. 20.10.1923, stammten beide aus demselben Dorf in der Ukraine und wurden beide im November 1942 nach Deutschland verschleppt. Raina hatte zuvor drei Fluchtversuche unternommen und war schon zum Tod durch Erhängen verurteilt worden, wie sie schrieb: "Die Verwandten haben mich gerettet, indem sie mich nach Deutschland geschickt haben." Bei Plageja kam ein Polizist zu ihrem Vater und sagte ihm, sie solle sich auf die Abfahrt vorbereiten: "Das war schon die zweite Deportationswelle, und mit der ersten wurde mein Bruder Maksim verschleppt [und in einer folgenden dritten ihre Schwester Uljana - C.T.] . Der Polizist hat gesagt, unser Haus werde abgebrannt, wenn ich nicht fahren würde. Vom Dorf zum Zug wurden wir mit dem Pferdefuhrwerk gefahren. Auf dem Bahnhof in der Stadt Krasilow wurden wir von einer fremden Frau registriert. Bei ihr waren 2 deutsche Soldaten, sie lachten über uns. Dann wurden wir in die Güterwagen geladen. Rings um den Bahnhof war ein Zaun gebaut worden, damit wir nicht weglaufen konnten. Es entstand ein Geschrei und Weinen. Alle glaubten, dass sie niemals zurück kommen werden. Am Abend sind wir abgefahren. Es gab kein Licht, weil die Gefahr von Bombardierungen bestand. Wir wurden von unseren Polizisten begleitet. Das waren unsere Jungen, die nicht nach Deutschland fahren wollten, deshalb sind sie Polizisten geworden. Das erste Halt war in Kiwerzy nachts, es war kalt, unsere Kleidung war elend. Wir aßen nichts, weil das Essen stank. Weiter wurden wir nach Krakow gefahren. Dort haben unsere Polizisten uns den Deutschen übergegeben. Weiter wurden wir gleich nach Göttingen gefahren. Dort wurden wir von den „Herren“ erwartet. Einige von uns wurden von ihnen genommen. Die andere kamen in die Fabrik: ich und aus meinem Dorf Raina Fjodorowna M. [sie nennt noch vier weitere Namen]. Es gab keine Toilette in unserem Wagen und dort waren viele Leute. Wir konnten uns nicht waschen und auf Toilette gehen. Wir machten das in eine Schüssel und warfen es aus dem Fenster."

Raina Fjodorowna nahm einen etwas anderen Weg nach Göttingen: "Ich wurde mit dem Güterzug nach Brest, Warschau und Frankfurt an der Oder gefahren. Dort war ein Verteilungspunkt. Auf dem Weg wurden unsere Leute in verschiedenen Städten zu verschiedenen Arbeiten herausgenommen. Wir bekamen fast nichts zu Essen, haben keinen Halt für die Toilette gemacht."

Beide kamen gemeinsam zu August Fischer: "Ich arbeitete in der Fabrik "Obers-Kaspjure", die sich im Zentrum der Stadt befand. Das war ein 3-stöckiges Gebäude, rings herum war ein Zaun, viel Grün. In demseselben Gebäude lebte die Familie des Besitzers der Fabrik, August Fischer. Wie uns der Abteilungsmeister gesagt hat, erzeugten wir Ersatzteile für Flugzeuge. Ich arbeitete an der Bohrmaschine und habe Löcher in Plastikteile gebohrt. Dann trug ich die 20-Kg schweren Kisten in den Keller", so Raina Fjodorowna. Und Pelageja Artjemowna ganz ähnlich: "Ich habe schwer gearbeitet. Wir haben Eisen ausgeladen und in den 2. Stock getragen. Die fertigen Erzeugnisse trugen wir in den 1. Stock, wo die Männer an den Maschinen arbeiteten. Die Fabrik hat Ersatzteile für Flugzeuge produziert. Wir haben auch das Essen zur Fabrik für unsere Landsleute und für die Deutschen gefahren. Das Essen für die Deutschen war viel besser als für uns."

"Die deutschen Arbeiter behandelten uns gut", schrieb Pelageja. "Die Meisterin war eine Frau namens Ilika, etwa 40 Jahre alt, und ein Mann - Uwolt [Wilhelm Huwald - C.T.]" Und über August Fischer fügt sie an: "August Fischer war ein sehr guter Mensch, er hat uns während der Arbeit nicht beschimpft und nicht geprügelt. Ein Deutscher, namens Tetmann, wollte ein Mädchen vergewaltigen. Unser Chef hat sie verteidigt. Danach sind die Mädchen zur Arbeit nur noch zu zweit gegangen." Auch nach dem Bombenangriff am 1. Januar 1945 auf das Lager Schützenplatz, in dem die "Ostarbeiterinnen von Fischer untergebracht waren, habe sich Fischer um sie gekümmert: "Wir haben unsere Sachen genommen und zum Werk gelaufen. August Fischer hat uns erlaubt dort zu schlafen, wo wir gearbeitet haben. Auf dem Feld wurde ein Haus gebaut, wo wir im Stroh geschlafen haben. In der 5ten Nacht wurde die Küche , wo wir gearbeitet haben, wieder bombardiert. Es ist schrecklich sich daran zu erinnern. Niemand glaubte, daß wir lebendig nach Hause zurückkehren werden."

Auch Raina, die etwas differenzierter über die deutschen Arbeiter bei Fischer urteilte, die sich ihnen gegenüber unterschiedlich verhalten hätten, sodass sie sich meistens selbst hätten helfen müssen, hatte ein gutes Verhältnis zu Fischers; sie putzte am Samstag deren Privatwohnung und kümmerte sich am Sonntag um dessen Enkeltochter. Sie bekam von der Familie Fischer als Andenken ein Foto von Tochter und Enkeltochter mit den beiden Großväter geschenkt.

Nach dem Einmarsch der Amerikaner, berichtet Raina in ihren Erinnerungen, seien sie in die zerstörten Lager verteilt worden: "Nachts wurden wir von den SS-Leuten überfallen, sie haben 20 Menschen erstochen." Diese Erinnerung muss sich allerdings nicht auf Göttingen beziehen. Pelageja berichtet, dass sie vor allem während des Transports durch Deutschland zurück in die Sowjetunion Angst vor Überfällen durch marodierende SS-Leute gehabt hätten. Auf diesem Transport seien auch noch zwei ihrer Landsleute gestorben.

Die Erinnerungen dieser beiden Frauen decken sich in vielen Punkten mit dem, was ein damals 15jähriger Lehrling bei August Fischer in einem Interview berichtete.

Sechs "Ostarbeiterinnen", die bei August Fischer in der Oberen Karspüle arbeiteten. Das Foto wurde von August Fischer selbst aufgenommen und den Zwangsarbeiterinnen anschließend geschenkt. Eine der Zeitzeuginnen, die uns das Bild überließ, ist oben links abgebildet, die andere wahrscheinlich in der unteren Reihe in der Mitte. Das untenstehende Bild zeigt die Werkstattleiterin Ida, die den Zwangsarbeiterinnen offensichtlich auch ein Bild von sich schenkte, was auf ein relativ gutes Verhältnis schließen lässt.

Quellen:

Interview mit Karl-Heinz B. (Lehrling bei August Fischer 1943/44) 21.5.2001, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32 - Tollmien.

Fragebogen Raina Fjodorowna M., geb. 1.7.1924, mit Fotos o.D. (Eingang Januar 2000), Fragebogen Pelageja Artjemowna D., geb. 20.10.1923, o.D. (Eingang 16.2.2001), Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32-Tollmien.

 


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