NS-Zwangsarbeit: Möbelwerkstätten Otto Reitemeier Göttingen und Rosdorf

1938 erwarben die Göttinger Möbelwerkstätten Otto Reitemeier, deren Stammsitz in Göttingen sich in der Düsteren Straße 20 befand, ein lehrstehendes Fabrikgebäude in Rosdorf (Unterdorf 1), das ursprünglich der 1929 in Konkurs gegangenen Textilfirma Hermann Levin gehört hatte. Ernst Reitemeier baute dort eine Serienmöbelfabrikation auf, die allerdings auf Anordnung des Oberpräsidenten von Hannover wegen "der gegenwärtigen außergewöhnlichen Umstände" im Apri l940 geschlossen wurde (Zeitangabe nach Siedbürger, 1995, S. 309 f., aus der Entnazifizierungsakte von Ernst Reitemeier). Ernst Reitemeier protestierte gegen die Schließung unter anderem auch mit seiner schweren Kriegsverletzung aus dem Ersten Weltkrieg und es gelang ihm, Wehrmachtsaufträge zu erhalten, die es ermöglichten, die Produktion 1942 wieder aufzunehmen. Reitemeier begann mit der Herstellung von Spinden und Munitionskisten und konnte seit Ende 1943 dann Flugzeugteile für die Luftwaffe fertigen. Das Unternehmen entwickelte sich so gut, dass die Gesamtbelegschaft im April 1944 schon aus 119 und Ende 1944 aus 127 ArbeiterInnen bestand (darunter auch viele Zwangsarbeiter) und Reitemeier zu den 30 größten Rüstungsfirmen der südniedersächsischen Region gehörte.

Erstmals einen Antrag auf die Zuweisung von Zwangsarbeitern stellte Ernst Reitemeier im Juli 1940 (also deutlich nach dem in seiner Entnazifizierungsakte angegebenen Schließungsdatum, das daher wahrscheinlich deutlich später lag). Wie viele andere Göttinger Firmen auch, bewarb sich Reitemeier um die Zuweisung von 21 französischen Kriegsgefangenen aus dem Lager Sültebeck. Der Antrag wurde vom Landesarbeitsamt anbgelehnt, weil im Kriegsgefangenenlager Fallingbostel eine Scharlachepedimie herrschte und das Kriegsgefangenen Lager Altengrabow völlig leer sei. Die Ablehnung von Reitemeiers Antrag wurde also nicht wie beispielsweise bei den optischen Werken Schneider & Co oder bei der Pergamentfabrik Rube damit begründet, dass es sich nicht um vordringliche Arbeiten handele, sondern schlicht damit, dass französische Kriegsgefangene zur Zeit nicht zur Verfügung standen. Ein sicheres Indiz dafür, dass die Schließung Reitemeier tatsächlich frühestens in der zweiten Hälfte des Jahres 1940 erfolgte. Hinzukommt ein bei Siedbürger, 1995, S. 310, zitiertes Bewerbungsschreiben eines Belgiers vom 28.4.1941, der - nachdem er schon von November [1940] bis Januar [1941] als Kriegsgefangener bei Reitemeier gearbeitet hatte, sich nun von Belgien aus erkundigte, ob und zu welchen Bedingungen er wieder bei Reitemeier arbeiten könne. Die Schließung von Reitemeier kann daher erst nach dem Januar 1941 erfolgt, vielleicht im April 1941 (eventuell handelt es sich bei Siedbürger, 1995, S. 309, auch nur um einen Schreibfehler). Von einer erfolgten Zuweisung von französischen Kriegsgefangenen an Reitemeier ist 1940 oder 1941 allerdings tatsächlich nichts bekannt, und auch 1942 waren zwar französische Kriegsgefangene in einer Baracke auf dem Gelände der Firma Reitemeier in Rosdorf untergebracht, arbeiteten aber bei verschiedenen Landwirten und auch in einer Bäckerei und einer Gärtnerei in der näheren Umgebung. Erst im Dezember 1943 lassen sich fünf kriegsgefangene Franzosen als Arbeiter bei Reitemeier nachweisen, die am 15.12.1943 in den Zivilarbeiterstatus (Transformation) überführt wurden. Und in einer Statistik vom 31.12.1944 sind 28 westlichen Kriegsgefangene (Franzosen oder eventuell auch Belgier) aufgeführt, die bei Reitemeier arbeiteten.

Reitemeier wurde als wichtige Rüstungsfirma offensichtlich bevorzugt mit Arbeitskräften versorgt. So beführwortete der Beauftragte für die Holz- und Forstwirtschaft in Hannover am 20. Mai 1943 die Zuweisung zusätzlicher Arbeitskräfte an Reitemeier, da die Firma erheblich unter Personalmangel leide.

Insgesamt mindestens 13 Belgier (darunter vier Frauen) arbeiteten seit März 1942 für die Firma Reitemeier. Das Schreiben der Eltern eines belgischen Arbeiters, der im Frühjahr 1943 nac Rosdorf fuhr, um bei Reitemeier zu arbeiten, deutet daraufhin, dass Reitemeier in Belgien eventuell gezielt Arbeitskräfte einwerben ließ. (das Schreiben ist wiedergegeben bei Siedbürger, 1995, S. 311).

Die größte Gruppe von Zwangsarbeitern aber bildeten 35 "Ostarbeiterinnen", Ukrainerinnen, die von 1942 bis 1945 bei Reitemeier arbeiteten. Untergebracht waren sie im Lager "Lehmkuhle" (die Baracken standen wie im Göttinger Lager Tonkuhle in einer ehemaligen Lehmgrube), das vor der Aufstellung der Baracke auf dem Firmengelände den französischen Kriegsgefangenen als Unterkunft gedient hatte und ebenfalls zum Betriebsgelände von Reitemeier gehörte. In den verschiedenen Baracken und anderen Räumlichkeiten der Firma waren nicht nur die Zwangsarbeiter von Reitemeier, sondern auch die Arbeiter für die umliegenden landwirtschaftlichen und Gewerbebetriebe untergebracht. Darunter sollen auch sowjetische Kriegsgefangene gewesen sein, die allerdings unter strenger Bewachung getrennt von den anderen Zwangsarbeitern in einem Magazinbau untergebracht waren.


Göttinger Adressbuch 1937


Das Göttinger Tageblatt berichtete am 2.11.2000 unter anderem, dass sich der heutige Inhaber der traditionsreichen Möbelhauses Reitemeier nicht als Rechtsnachfolger der alten Firma sieht und als Existenzgründer sich nicht in der Lage sehe der Stiftungsinitative zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter beizutreten.


Quellen und Literatur:

Landesarbeitsamt an Stalag 23.7.1940, Aktennotiz 25.7.1940, Stadtarchiv Göttingen Bauamt Abt. I Fach 16 Nr. 48, o.P.

Der Beauftragte für die Holz- und Forstwirtschaft an das Forst- und Holzwirtschaftsamt in Hannover [das ist der Oberpräsident] 20.5.1943, Stadtarchiv Göttingen Forstamt 134.00c Az, o.P.

Beschäftigungsmeldung 31.12.1944, Bundesarchiv Berlin Lichterfelde R 12I/102 (Reichsgruppe Industrie), zur Verfügung gestellt von Frank Baranowski.

Lagerliste zusammengestellt auf Anforderung der Gestapo 6.9.1944, Stadtarchiv Göttingen Pol. Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 545 f.

Zusammenstellung der Kasernen, Barakcen und anderen größeren Unterkunftsmöglichkeiten im Stadt. und Landkreis auf Anforderung des Stadtkommandanten vom 12.7.1945, Stadtarchiv Göttingen Bauamt Fach 2 Nr. 35, o.P.

Namensliste aus dem Gemeindearchiv Rosdorf 3.2.1.-13(1-3)-8: Rosdorf: verschiedene Gemeindeangelegenheiten und Verwaltungsangelegenheiten, zur Verfügung gestellt von Günther Siedbürger. Bd. 13/14 enthält u.a. eine Liste der ab 1940 in Rosdorf beschäftigten Ausländer und französischen Kriegsgefangenen

Frank Baranowski, Geheime Rüstungsprojekte in Südniedersachsen und Thüringen während der NS-Zeit, Duderstadt 1995, S. 40/S. 42, S: 236 Anm. 62.

Klaus Groth, Chronik der Gemeinde Rosdorf und ihrer Ortschaften, Band 2, Gudensberg-Gleichen 1988, S. 239 f.

Günther Siedbürger, Zwangsarbeit im Landkreis Göttingen 19139-1945, hg. vom Landkreis Göttingen, Duderstadt 2005, S. 309-314 (dort in Anmerkung 355 S. 310 der Hinweis auf die Entnazifizierungsakte als Quelle).  


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