NS-Zwangsarbeit: Hermann Stresau (1894-1964), Von Jahr zu Jahr, Berlin 1948, Tagebuch

Hermann Stresau wurde am 19. Januar 1894 in Milwaukee geboren, kam aber 1900 nach Deutschland und ging in Frankfurt zur Schule. Er studierte Germanistik, meldete sich aber bei Beginn des Ersten Weltkriegs als Freiwilliger. Nach dem Krieg studierte er weiter in Berlin, München, Greifswald und Göttingen (ohne einen offiziellen Abschluss) und schrieb parallel dazu bereits für die Presse und veröffentlichte erste eigenen Arbeiten. Um seinen Lebensunterhalt zu sichern, war er seit 1929 als "wissenschaftlicher Hilfsarbeiter" in der Volksbücherei Spandau tätig, wo er im April 1933 wegen kritischer Bemerkungen gegen Hitler und das NS-Regime entlassen wurde. Ein Jahr konnte er dann noch als Dozent an der Berliner Bibliothekarsschule arbeiten, bis er auch dort entlassen wurde. Mit Hilfe einer amerikanischen Erbschaft und gelegentlichen Verlagsaufträgen schlug er sich als freier Schriftsteller durch, bis er wegen der Aussicht auf eine Stelle als Lektor an der Universität im Janaur 1940 nach Göttingen zog. Aus der Stelle wurde nichts, Stresau blieb aber dennoch in Göttingen, wo er im Februar 1943 zu den optischen Werken Schneider & Co in Weende dienstverpflichtet wurde. Seit April 1933 hatte Stresau Tagebuch geschrieben, das er bis zum Einmarsch der Amerikaner in Göttingen fortführte und nach dem Krieg unter dem Titel "Von Jahr zu Jahr" im Minervaverlag veröffentlichte. Er schrieb darin ausführlich über seiner Erfahrungen bei Schneider & Co, über seine dortigen Begegnungen mit Zwangsarbeitern, zu denen er sehr enge Kontakte pflegte - trotz Gefahr der Verfolgung durch die Gestapo; er schilderte die Stimmung im Betrieb, die gegen Ende des Krieges immer mehr nachlassende Produktivität, die Bombenangriffe auf Werk und Stadt, verfolgte auch das Schicksal der Juden und scheute nicht vor offenen politischen Einschätzungen zurück. Er litt deutlich unter der Dummheit, Bosheit und Brutalität der damaligen Machthaber, sowohl auf der örtlichen als auch auf der Reichsebene, machte sich Gedanken um die Zukunft Deutschlands und auch die Sorge um seine Kinder, die in Frankfurt lebten, prägte sein Tagebuch. Stresau machte sich im Übrigen vor allem als Autor von Biographien insbesondere englischsprachiger Schriftsteller wie Joseph Conrad, Ernest Hemmingway, G.B. Shaw und Thornton Wilder einen Namen, die er auch übersetzte; er schrieb aber auch über Heinrich Böll, Thomas Mann und Christian Grabbe. Außerdem war er Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und verfasste selbst mehrere Romane. Auch seine Erlebnisse bei Schneider & Co goß er unter dem Titel "An der Werkbank" (Berlin 1947) noch einmal in Romanform. Nach dem Tod seiner Frau 1958 zog Stresau nach Frankfurt zu seinen Kindern, wo er am 21. August 1964 starb.

Im folgenden sind Ausschnitte aus Stresaus Tagebuch "Von Jahr zu Jahr" abgedruckt, die sie sich auf seine Zeit bei Schneider & Co beziehen:

21.2.1943 (S. 321)

"Heute Morgen beim Arbeitsamt: Einsatz im Rüstungsbetrieb ab morgen, bei einem Optischen Werk in Weende, das jüngst entstandene, noch im Krieg aufgebaute Werk. Die schriftlichen Einwände meiner Verleger verfingen gar nicht. Überdies befreit mich diese Sache eventuell von den Ansprüchen der Polizeireserve, die mir sehr im Magen lagen, bin also insofern ganz froh. Wenn ich's nur einigermaßen durchhalte …

22.2.1943 (S. 322)

Ging früh, gegen 7 Uhr bei schönem milden Wetter zur Fabrik in Weende, zu früh wie sich herausstellte. Mein Erscheinen rief eine kleine Konfusion hervor. Endlich nach, einer halben Stunde zwei Herren, die sichtlich verlegen waren, was mit mir anzufangen sei. Beschlossen, mich in der Optik unterzubringen, als Prüfer oder Kontrolleur, was weiß ich, eine Lösung des Problems à tout prix. Ich war der erste vom Arbeitsamt Zugewiesene. Antritt morgen, d. h. ich hätte auch erst in 8 Tagen antreten können, die Leute haben's nicht eilig: Arbeitszeit 8 Stunden, beginnend um 7.30 Uhr mit Mittagspause 81/2 Stunden, Essen in der Kantine. Ich werde also mit optischen Linsen zu tun haben, wie Spinoza.

23.2.1943 (S. 322)

Mein erster Tag im Betrieb. Mußte mir alles ansehen, um etwas Überblick zu gewinnen. Bin vorgesehen als Prüfer in der Optik. Zunächst aber heißt es verschiedene Arbeitsgänge als Polierer kennen lernen. War erst etwas erschreckt durch den Lärm und die Hitze im Poliersaal, 27 Grad ständige Temperatur. Klimaanlage soll für frische Luft sorgen, aber wegen Stromersparnis jetzt stark eingeschränkt, doch ist die Luft erträglich. Gewöhnte mich bald an die Umgebung, die im Menschlichen durchaus sympathisch ist. Die innere Ruhe des Arbeiters, der viel tut und wenig redet.

Heribert Br. verabschiedete sich abends, er muß Freitag in Magdeburg antreten bei leichter motor. Artillerie. Ein junger, hochbegabter Mensch, uns ein naher Freund geworden. Unser kleiner Kreis bröckelt mehr und mehr ab ...

[…]


Hermann Stresau um 1954


Titelbild seines 1948 im Minerva-Verlag veröffentlichten Tagebuchs.

6.3.1943 (S. 323)

Heute und morgen Straßensammlung mit gewaltigem Aufgebot von Sammlern, alle 10 Schritt begegnet einem so ein Büchsenschwenker. Der Kreisleiter möchte das letzte Resultat verdoppeln.

Im Betrieb erzählte mir heute Rudi W., der mich in die Geheimnisse des Polierens einführt, seine Ansichten über die Amerikaner, d. h. die Parteiansichten, denn eigentlich müßte er zu verständig sein, um solchen aus Halbwahrheiten und Blödsinn gemixten Salat überhaupt ernst zu nehmen. Er müßte es sein, wenn nicht gerade bei solchen ehrlichen und anständigen Deutschen wie bei ihm die Wollust der Selbstausschaltung eigenen Denkens und Lebens bis zur Absurdität ginge, bis zur völligen Blind- und Taubheit gegen offenbare Widersprüche. Ohne Zweifel liegt darin ein gewisses Kraftreservoir, der Fanatismus nämlich. Merkwürdig nur zu sehen, wie ein in allem, was nicht die Politik, betrifft (oder was er dafür hält) ruhiger und vernünftiger Mensch, ein tüchtiger Arbeiter obendrein, sofort den Verstand verliert, wenn der "politische" Kontakt einschnappt.

[…]

17.3.1943 (S. 324 f.)

[…]

Die Fabrik ist für mich, obwohl die 8 Stunden mich doch meistens sehr anstrengend, eine Art Glück. Der Krieg bedrückt mich mehr und mehr bis zum Unerträglichen, wenn ich allein bin oder untätig. Im Betrieb, an der Maschine gleicht sich das aus. Nahm heute trotzdem den halben Tag frei, um mit Fr. zu musizieren. Man verlangt nach dergleichen, obwohl so eine Stunde Musik, unirdisch, nur vertieftere Depression hinterläßt. Bekommt man dazu die Phrasen à la Dietrich vorgesetzt, in denen jedes Wort falsch ist ... Phrasen, Phrasen über Hekatomben von Blut und Unglück. Die Arbeit in der Fabrik sichert ein gewisses inneres Gleichgewicht, das zwar nicht in die Tiefe reicht, aber doch einige Haltung ermöglicht.

Auf meinem Frühwege zum Betrieb singen die Drosseln in den kahlen Obstbaumzweigen der Schrebergärten. Zuweilen jubeln Lerchen über den Äckern. In den Gärten blühen Krokus, Leberblümchen, Schneeglöckchen, Seidelbast. Frühlingsanfang.

27.3.1943 (S. 325)

Erhielt gestern durch einen dicken Polizisten die Einberufung zur Polizeireserve für den 1. April. "Langfristig". Ich fragte den Dicken, was das heiße, langfristig. "Über Kriegsdauer hinaus", sagte er und grinste. "Ich danke sehr", sagte ich und ging zum Arbeitsamt, die Sache anzumelden, und heute früh in den Betrieb, der mich reklamieren will. Ob's was nützt, ist fraglich. Ich strenge mich nicht an deswegen, wie's kommt, so mag's kommen.

31.3.1943 (S. 325 f.)

Die Front im Osten ist zum Stehen gekommen. In Tunesien schwere Abwehrkämpfe. Luftangriffe auf Westdeutschland und Berlin.

Das Arbeitsamt hat gegen die Polizei gesiegt, nach "schwerem Kampf", wie man mir sagte. Ich hatte gestern im Betrieb ganztägig geschwänzt, wegen Fr.s Geburtstag, den wir mit einem Mittagessen und hinterher bei Fr. mit Tee und Kuchen feierten. Um so vergnüglicher als ich eben auf meinen Anruf im Arbeitsamt erfuhr, daß ich nicht Polizist zu werden brauchte. Im Betrieb hatte ich vorher Hexenschuss gemimt, um schwänzen zu können, was ziemlich anstrengend war.

19.5.1943 (S. 327 f.)

Die zerstörten Talsperren haben viel Unheil verursacht. Bei der neuerdings wieder aufgelegten Judenhetze figuriert auch dieser Angriff als eine Tat "jüdischer Verbrecher". Aber diese Propaganda verfängt wenig. Die Bevölkerung wird sehr nachdenklich, sie sieht keinen Ausweg aus dem Ganzen. Schließlich rächt sich die furchtbare Verlogenheit doch. Schüchterne Ansätze zur Ehrlichkeit: man gibt jetzt unsere Fliegerverluste bekannt. Sie erscheinen niedrig angesichts der Verluste der anderen; da aber Verluste, nur als Verhältniszahlen etwas aussagen, sind die Angaben so gut wie wertlos.

Im Ganzen sinkt die Stimmung stark ab: der Verlust von Stalingrad, die Kürzung der Fleischration (Göring: im November 42: der Tiefpunkt sei überschritten, "es kann nur noch besser werden"), die furchtbaren Luftangriffe sind durch diese kindische Lügerei nicht wettzumachen. Jetzt beginnt der Krieg allen unheimlich zu werden.

Vor einiger Zeit im Betrieb Gemeinschaftsempfang einer Rede von Ley: sie erschien wie der Paroxysmus eines vor Angst irrsinnig gewordenen Mörders, der die Schuld auf andere zu schieben versucht. Der andere ist in diesem Fall der "Jude". - Ley gröhlte dies Wort in ordinärster Wut heraus. Ich mußte an eine in die Ecke getriebene, vor Todesangst zähnefletschende Ratte denken. Die Leute blieben völlig unerregt, hörten kaum zu, keiner sprach hinterher ein Wort darüber, so etwa wie man unter anständigen Leuten eine grobe Unflätigkeit taktvoll übergeht.

Es ist vielen klar, daß die Partei um ihre Existenz kämpft. Goebbels hat recht, wenn er im "Reich" schreibt: wir können nicht mehr zurück. "Wir", d. h. die Partei: Aber die Partei repräsentiert nicht das ganze. Volk, bestenfalls 30 v. H. Und am Ende des Jahres wird die Bilanz noch schlimmer ausfallen, wenn ein Wunder ihnen zu Hilfe kommt. Aber diese Partei ist mit der Nation verkoppelt, sie besitzt eine außerordentliche Macht, die sie ständig noch ausbaut, neuerdings in der Wirtschaft.

[...]

29.6.1943 (S. 331)

[…]

Im Betrieb soll jetzt übrigens Sport eingeführt werden, zur Leistungssteigerung. Der Sportwart hat sich der Sache "mit Begeisterung" angenommen. Die Leute arbeiten größtenteils 11 bis 12 Stunden den Tag, ein Teil hat außerdem Flakdienst für die beiden Abwehrgeschütze, die auf dem Dach stehen. Wo sie Zeit und Kraft hernehmen sollen, auch noch Sport zu treiben, ist mir nicht recht begreiflich.

[…]

18.8.1943 (S. 336)

[…]

Der Kreisleiter Gengler hielt gestern eine Rede und rechnete darin, wie mir der Obmann in der Fabrik erzählte mit der "Intelligenz" ab, in derartig scharfer Form, als stände eine Bartholomäus-Nacht bevor ("Nacht der langen Messer", drückte der Obmann das aus). Dieser selbst schüttelte den Kopf dazu.

In der letzten Zeit hatten wir hier mehr Tages- als Nachtalarme. Die innere Stimmung, in der man lebt, ist kaum zu beschreiben.

[…]

4.9.1943 (S. 337)

[…]

Heute Vormittag war ich zur Nachuntersuchung in die Lüttich-Kaserne bestellt. Zehn Mann meines Alters, ich allein kv, wie erwartet. Heute Aufruf der Jahrgänge 1893-84. Ich rechne nun sehr damit, eingezogen zu werden. Wollen nächste Woche in Urlaub, wenn das noch geht. Mir graut vor dem Stumpfsinn beim Militär, irgendeinem Landsturmdienst, das Verblödenste, was es gibt.

[…]

2.10.1943 (S. 338)

Wir sind seit vorgestern wieder vom Urlaub zurück. […] Bin ganz froh, daß ich Montag wieder im Betrieb bin. Die Firma hat mich im September uk stellen lassen.

[…]

4.10.1943 (S. 338 f.)

[…]

Die Arbeit in der Fabrik schmeckt mir gut. Habe eine leichtere Maschine bekommen, bei der ich mich auch mal hinsetzen kann.

[…]

8.10.1943 (S. 339 f.)

Von den Kindern Nachricht, daß alles in Ordnung ist. In der Fabrik beinahe täglich Alarm, wobei die Flak droben auf dem Dach Stellung bezieht und frische Luft genießt. Heute eilten die Flakleute gerade hinauf, als ich wegging, es kam aber nur ein Schwarm Wildgänse angeflogen, schön im Dreieck gestaffelt.

Der Obmann erging sich mal wieder in Ansichten und meinte selbst, man dürfe wohl nicht zu optimistisch sein. Merkwürdigerweise sprechen die meisten Menschen, wenn sie vom Krieg sprechen, nur von England und lassen Amerika außer Betracht, als laufe das nur so nebenher. Der Obmann gab zwar zu, man könne Amerika nicht schlagen, aber dort selbst könne ja eine Revolution kommen, wenn es den Krieg lange und vergeblich führe...

Die erste Woche im Betrieb seit dem Urlaub strengte mich mehr an denn je, fühlte mich trotzdem ganz wohl dabei.

7.11.1943 (S. 342)

In der Fabrik sind neue Gesichter aufgetaucht: Italiener. Deutsche, Belgier und Franzosen schauen auf die armen Kerls, die "Makkaronis", mit einhelliger Verachtung herab. Zum guten Teil Süditaliener, gutmütige Burschen. Manche sehr zerlumpt, müssen erst Arbeitskleidung bekommen.

Ich fühle mich entsetzlich abgespannt, war gestern (Sonnabend) total erledigt. Ich, habe das alles unaussprechlich satt. An den Sonntagen, wie heute, ist's besonders schlimm. Das einzige, was hilft, wäre der Friede. Aber der Friede, der zu erwarten steht, wird vielleicht nicht viel erträglicher sein. Ging neulich mit M., dem Abteilungsleiter der Optik, vom Dienst heim: er war sehr bedrückt, wußte einfach nicht, wie er sich den Ausgang vorstellen sollte. Er war eigentlich verzweifelt, und im Grunde geht’s allen so.

[…]

12.11.1943 (S. 343)

[…]

Im Betrieb eröffnete mir vor zwei Tagen der Direktor zu meinem Erstaunen, ich würde nun Prüfer. Ich hatte das längst abgeschrieben, und schließlich bin ich ja alles andere als ein Sachverständiger. Aber es bedeutet eine gewisse Erleichterung. Ich unterstehe dann direkt dem Abteilungsleiter und kann mich freier bewegen. Außerdem schützt mich diese "Beförderung" noch eher vor der Wehrmacht, der noch vor Toresschluß mich beizugesellen ich wenig Lust habe.

Hitlers Rede zum 9. November natürlich voller Siegesgewißheit. "Alles ist möglich, nur nicht, daß ich die Nerven verliere". Alles, d. h. auch, daß er Generäle abgesetzt und liquidiert hat usw. Ankündigung verschärften Terrors gegen "Saboteure". Der Krieg, sagte er, könne so lange dauern, wie er wolle, wir kapitulierten nicht. Die totale Vergeltung gegen England käme (es heißt: März 44), irgendwelche positiven Ergebnisse bot die Rede nicht. Am Ende weiß dieser unmögliche Mensch nicht einmal genau, wie es mit uns steht.

[...]

21.11.1943 (S. 346)

[…]

Im Betriebs ist's mir noch am wohlsten. Meine neue Arbeit, ganz angenehm, meistens in der Montage, wo es kühl ist und kein Lärm. In der Montage arbeiten ziemlich viel Frauen, alberne Weiber darunter, ein unaufhörliches Gelache und Gekakel. Kam jetzt zur Prüfung von Doppelfernrohren, unter M's Anleitung, Jedes Stück wiegt etwa 35 Pfd., was beim Anheben von 150 Geräten allmählich ins Gewicht fällt. Aber das Arbeiten in normaler Luft ist geradezu eine Erholung.gegen die Poliererei.

Fleisch und Fett sollen bald gekürzt werden; Kartoffeln sind schon gekürzt, in der Werksküche um die Hälfte, auf 250 g pro Tag.

Im Betrieb, d. h. in der Montage, fällt mir eine gewisse Umgangsart mit den Weibern auf. Ein junger Mann mit hohlblickenden Augen kann offenbar der Versuchung nicht widerstehen, weiblichen Mitmenschen mit Griffen beizukommen, die man als unsittlich zu bezeichnen pflegt. Er hat, wie ich höre, irgendeinen Führerposten in der HJ, anscheinend unabkömmlich. Neulich entstand zwischen ihm und einer jungen Frau eine regelrechte Katzbalgerei. Der Frau, deren Mann im Felde ist, schien das gar nicht so unangenehm zu sein. Der Bengel gehörte hinaus an die Front und zunächst täten ihm Hiebe gut, zum mindesten ein paar hinter die Ohren, aber wer will sich da einmischen. Der Vormann Z., stellvertretender Obmann, begünstigt dies Treiben. Die anderen benehmen sich anständig, aber ein oder zwei solcher Ferkel genügen, einen ganzen Saal voll Weiber hysterisch zu machen. Den Frauen bekommt die Fabrik nicht gut. Sie werden leicht frech in der Freiheit. Schließlich müssen sie sich ihrer Haut wehren, und so gewöhnen sie sich einen Ton an, der ihnen nicht gut tut.

[…]

21.12.1943 (S. 348)

Fast jeden Abend Alarm. Wir sollen zu Weihnachten 4 Tage frei haben. Vorgestern DAF-Aufmarsch zur Stadthalle. Predigt eines Propagandisten Ichweißnichtwer: den Volksgenossen lieben, den Feind hassen, keine Angst vor dem Tod. Motto: der Feind hat das Material, wir den Glauben.

Im Betrieb meinte W., der einmal mein erster Mentor, war: die englischen Arbeiter würden schließlich noch mit uns zusammengehen. So spiegeln sich Furcht und Hoffnung in Pg-Köpfen. Habe neuerdings viel gemeinsame Arbeit mit einem Franzosen, Mathematiker, netter Kerl, - was soll uns dieser Krieg? absurd ...

Ausspruch einer Russin: wenn die Zaren sich prügeln, was können wir dafür? Es steigt eine Erbitterung in einem hoch, die wie ein Gift wirkt.

25.12.1943 (S. 349)

[…]

Vier Tage Ferien, am Montag allerdings Betriebsgemeinschaft im Theater, also Vergnügen auf Befehl. Der kleine Franzose schüttelte den Kopf. Kein Franzose, meinte er, würde auf Kommando tanzen. Wir sind eben Deutsche, und der alte Militärwitz vom preußischen Lachen, das exerziert werden muß: haha -- zwei-drei! haha — zwei-drei! hat das ganz richtig erkannt.

Waren gestern allein, still und friedlich unterm Baum. Der Führer hat ein Wiederaufbau-Programm befohlen und Speer damit beauftragt. Wir werden also total siegen. Das heißt: wir werden Rußland, England und Amerika niederringen. Vielleicht glauben die Machthaber oder halten für möglich, daß
a) Rußland sich bald verbluten wird,
b) England im Frühjahr zu erledigen ist,
c) Amerika daraufhin aussteigen wird.

Das erste ist vielleicht möglich, das zweite fraglich und das dritte dermaßen unwahrscheinlich, daß damit auch die beiden ersten Punkte gegenstandslos werden. Dagegen werden bis zum Frühjahr ein gut Teil unserer Städte in Trümmern liegen und damit auch ein Teil der Industrie lahmgelegt sein, während diejenige der USA völlig ungestört arbeiten kann, übrigens auch die der Russen.

Es sei denn die neue mysteriöse Waffe schlüge alle anderen aus dem Felde, und zwar so, daß selbst USA das Rennen aufgäbe. Theoretisch ist das durchaus denkbar. Die Frage ist nur, ob es dem Feinde gelingt, die Produktion dieser Waffe durch Bomben zu unterbinden. Diese Frage ist wohl ernst zu nehmen. Bei der Beschäftigung von 12-13 Millionen Ausländern, größtenteils feindlichen Ausländern im Reich . . .

Ich werde von Neuralgien geplagt. Lichtlose Tage.

[…]

7.1.1944 (S. 350)

[...]

Es heißt, wir sollen hier Flak bekommen, im Rahmen einer Flaksperre. Wenn das stimmt, dann gute. Nacht. Um die "Vergeltung" ist es wieder still geworden, selbst Hitler erwähnte sie nur in einem kurzen Satz. Was aber auch sonst noch verstummt ist, das sind die politischen Witze.

[…]

23.1.1944

[…]

Ich habe mich mit ärztlichem Attest für 8 Tage frei gemacht., Es ging nicht mehr. Heute Vormittag Alarm: Es ist merkwürdig, wieviel unbekümmerter die Leute bei Tage sind als bei Nacht. Sie kommen gemächlich auf der Straße daher, und H.s, die nachts regelmäßig bei Alarm den Keller aufsuchen, bleiben oben. Freilich ist bis jetzt (gegen 12 Uhr) kein Motorengeräusch zu hören. Eben kam ein Schwarm vorbei, über den Wolken, nicht auszumachen, Jäger oder Bomber. Durch unsere Jäger ist ,die Gefahr für kleinere Orte in mancher Beziehung gewachsen: Bomber werden abgedrängt, zerstreut, geraten in Luftkämpfe und werfen ihre Last- ab . . .

Vermehrtes Getöse, klingt nach Luftkampf. Ein Schwarm Jäger kam vorbei, zur Landung offenbar. Die Luft braust aber immer noch wie von riesigen Hornissen.

31.1.1944 (S. 351 f.)

Nach wie vor schwere Kämpfe im Osten. Hauptdruck im Norden bei Leningrad und Ilmensee, und Mitte (Retschiza). Von dem russischen Vorstoß nach Polen seit 10-14 Tagen keinerlei Nachricht.

Fr. erzählte neulich von Kassel, wo Sie 1 1/2 Stunden umhergegangen sei und nur Ruinen gesehen habe. An einigen Ruinen Kränze am Keller, wie auf Gräbern, für die Verschütteten.

Jemand erzählte Folgendes: Eine Frau wird dienstverpflichtet, die Heizung im Hause zu versehen. Will heiraten, darf aber nicht zu dem auswärts beschäftigten Manne ziehen, weil sie hier"dienstverpflichtet" ist mit ihrer Heizung.

Dieser Krieg: Illustration zu Montaignes "Moutons de Panurge".

Im Betrieb war nicht viel los. Nur Verstärkung des Werkschutzes, der jetzt unter Führung eines Obersten a. D. steht, der viel Unruhe ins Haus bringt mit seinem Übereifer. Er hat es besonders auf die Ausländer, insbesondere auf die Franzosen, abgesehen, die nun gerade unsere besten Leute sind.

Mir wird immer düsterer zu Mute, ich sehe absolut nichts Gutes kommen. Und das Tageblättchen schwätzt mit dem Führer vom Sieg, der freilich selbst für unseren Herrn und Oberidioten nur noch durch den "Glauben" gewährleistet wird. Niemals ist ein Volk so leichtfertig in sein Unglück geführt worden, außer den Juden zur Zeit Vespasians: Und die hatten beinahe noch mehr Chancen und sehr viel mehr Recht, wenn auch ihr Widerstand schließlich zum Wahnsinn wurde. - Hitler in seiner Rede. zum 30. Januar meinte, die Judenpolitik werde auch bei den anderen Eingang finden. Diese Katastrophen-Politiker quasseln von Friedrich dem Großen und dem 7jährigen Krieg.

Wenn die Produktion überall so absinkt wie, bei unserer Firma, dann kann der Laden nicht mehr lange halten. Wir bleiben weit hinter dem Lieferungs-Soll und den Terminen zurück.

2.2.1944 (S. 352)

Eine Frau ist verdonnert worden, weil sie "Feindmeldungen" darüber verbreitet hatte, daß manche Höhergestellten Zusatzrationen erhielten, sogen. "Diplomatenzulagen". Dazu die Bemerkung (die Frau hat Gefängnis bekommen), in NS-Deutschland bekämen, wie jedes Kind wisse, nur Schwerst- und Langarbeiter Zulagen, sonst ausnahmslos alle die gleichen Rationen. Die Frau sitzt nun unschuldig im Gefängnis: wir haben einen Brief gesehen, worin die Frau eines Angehörigen der SS (mit 2 Kindern) von ihrer Weihnachtszulage schreibt: 7 Liter Öl und 30 Pfd. Mehl waren darunter. Die 7 Liter Öl sind allein eine Fettration für gut 2 Jahre.

5.2.1944 (S. 353)

[…]

Bei unserem Bäcker hat die Frau Brot und Semmeln aus der Auslage zurückgezogen. Es wird zu viel davon gestohlen, sagt sie.

Es fällt schwer, noch etwas Erfreuliches aufzutreiben. Wer oder was kann die zerstörten Herzen wieder heilen? Städte kann man wieder aufbauen, aber die Rohheit der Menschen abbauen, das dürfte um vieles schwerer sein. Am reinsten noch mag sich der kämpfende Soldat bewähren, und auch der nur zum Teil, in seinen besseren Seelen. Das Übrige verbummelt, verroht, verwirrt sich, verkümmert.

In Berlin werden jetzt die letzten Juden weggeschafft, z. B. die aus Mischehen, auch wenn die Söhne in diesem Kriege für die ungeheuerlichen Verbrechen fallen durften. Auch das Alter spielt keine Rolle. Eine 89jährige: weg mit ihr. Letzteres erzählte Gudrun R., die aus Berlin gekommen ist.

12.2.1944 (S. 353 f.)

[…]

Abends meldet sich bei mir regelmäßig eine Neuralgie, die mich am Tage in Ruhe läßt, schlafe infolgedessen wenig und schlecht. Merkwürdigerweise setzt sie regelmäßig auf dem Heimweg vom Betrieb ein und eben dann mir solcher Heftigkeit, daß ich manchmal kaum aus den Augen sehen kann.

Im Betrieb ist eine Schar Tschechen angekommen, junge Männer und Mädchen, welch letztere das Entzücken meines Franzosen erregen, weil sie ihn an Französinnen erinnern. Sie sind in der Tat zum Teil recht hübsch und machen sich entsprechend zurecht. Die Ausländer überwiegen bei der Firma jetzt, während es vor einem Jahr noch umgekehrt war. Die Arbeit, die mir eine zeitlang zum Halse heraushing, gefällt mir wieder besser; ich soll einen eigenen Prüfraum kriegen, wo F., der Franzose, und ich für uns allein sind. Jetzt sind wir in einem Glasverschlag in der Poliererei, sehr beengt und bei dieser scheußlichen Temperatur, die mich sehr mitnimmt. Die Prüferei hat mich allerlei Einblick in Aufbau und Organisation des Betriebes tun lassen, sowie in menschlich persönliche Dinge, die nicht sehr erfreulich sind. Am erfreulichsten gelegentliche kleine Gespräche mit einem der französischen Kg, einem Proust-Kenner und Mozart-Liebhaber; wir begeisterten uns neulich, am Material-Aufzug wartend, an den Violin-Sonaten. Der Mann liest in, der Freizeit auch viel Goethe.

[…]

2.3.1944 (S. 355 f.)

Der Krieg "steht" mal wieder: aber jeder hat das Gefühl, daß heftige Ereignisse im Anzuge sind.

Die Arbeit in der Fabrik erschöpft mich nach wie vor. Abends ein Gefühl, als hätte ich eine achtstündige Gebirgstour hinter mir, aber in schlechter Luft statt in frischer. Bei der Arbeit selbst verhältnismäßig auf dem qui vive, hinterher kommt die Ermattung mit einer Plötzlichkeit, daß mir jedes Wort zu viel ist.

Folgende Geschichte: Kurt Miske,, Vetter von Grete Rittergutsbesitzer an der Weichsel, Gut Luschkowo (1919 von den Polen parzelliert, nach 1939 wieder hergestellt) ist auf folgende Weise ums Leben gekommen: Vor etwa 2-3 Monaten wurde er zur Polizei zitiert und war seitdem verschwunden. Angeblich soll sich der 60jährige, sehr ruhige, anständige und ziemlich unoriginelle Mann mit einer Polin eingelassen haben. Nach geraumer Zeit bekommt die Familie (Frau und 2 Töchter) von ihm eine Postkarte aus Berlin mit der dringenden Bitte um Geld und Lebensmittel. Anscheinend wurde er dort bei Aufräumungsarbeiten beschäftigt, ob als Strafgefangener oder wie, ist nicht klar. Eine Schwester von ihm (zwei andere wurden 1939 von den Polen ermordet) fährt nach Berlin, erfährt dort, daß er inzwischen an Lungenentzündung gestorben sei.

Bezeichnend die Mysteriosität dieses Vorfalls die Möglichkeit, daß ein Mensch ohne weiteres im Dunklen verschwindet, ohne Rechtsgrund, ohne Verfahren. Das organisierte Verbrechen mit staatlicher Sanktion. Ein Staat, der sich selber die Rechtsgrundllage entzogen hat ...

Eine der Aufgaben, die dieser Krieg an den Menschen stellt: Herr seiner selbst und der Umstände zu bleiben, so weit es irgend geht. Manche scheinen den totalen Krieg als eine Art Gelegenheit aufzufassen, sich selbst zu verschleudern, was die erste Vorstufe zum Zusammenbruch ist.

Die Dienststellen der Partei machen die Leute nervöser als der Krieg selbst.

Anekdote: eine Frau auf dem Lande überrascht ihren Mann mit einer Polin und ruft sogleich die Gestapo an. Der Mann war längere Zeit weg und kam dann wieder, lebt jetzt wieder bei seiner Frau. Muß eine merkwürdige Ehe ausmachen.

[…]

21.3.1944 (S. 358)

Gestern der Kreisobmann im Betrieb: Aufforderung. zum unbedingten Glauben und Gehorsam. Unsere Lage in Rußland bagatellisierte er, als mache uns das alles nichts aus. Die Vergeltung werde in einigen Wochen kommen, übrigens auch die feindliche Invasion, auf die man sich ja schon so freut. Dies werde alles entscheiden. Der Führer habe befohlen, dafür zu sorgen, daß das Volk die Vergeltung nicht als Grausamkeit ansehe. Danach werde man sich wieder mit voller Kraft gegen den. Osten wenden und den Russen schlagen. Allerdings werde der Osten immer so eine Art Front bleiben, d. h. Kriegszustand, den die Herren ja so lieben, daß sie ihn gern verewigen, da etwas anderes nicht in ihr steriles Gehirn hineingeht. Churchill habe gesagt, sie könnten technisch dasselbe wie wir, das sei zuzugeben, aber wir seien um ein Vierteljahr voraus. Diese Aussprache des Kreisobmannes. vor den Leitern und Meistern und Vorarbeitern der Belegschaft galt als "Ausrichtung" eines "Stoßtrupps", der "Garant" sei für den Gehorsam der ganzen Betriebe.

Die Leute wissen also ganz gut Bescheid über die Stimmung und die Kritik, die unter der Hand geübt wird. Sie machen sich nur eins nicht klar: die innere Aussichtslosigkeit, selbst wenn sie Recht behielten. Ihre Phrasen sind hoffnungslos verbraucht, und unter dem Schaum tritt der harte Felsgrund der Tatsachen immer deutlicher heraus, an dem auch der "Glaube" zerschellen kann. Denn der kann zwar Berge versetzen, aber an den falschen Platz.

[…]

30.3.1944 (S. 359)

Die Partei, sehr rege geworden, ruft zum freiwilligen Ehrendienst in der Industrie auf und spricht immer noch vom Endsieg.

Verließ heute den Betrieb schon am Vormittag, da nichts für mich zu tun war. Von unseren Kindern aus Frankfurt keine Nachricht seit dem letzten Angriff.

[…]

5.5.1944 (S. 361)

Etwas weniger Alarme hier. Gestern war ich gerade bei M. im Büro, als unsere Flak plötzlich losschoß. Sie soll eigentlich nur bei direktem Angriff auf die Fabrik schießen, hatte sich aber hinreißen lassen, auf einen entfernteren Tiefflieger zu knallen. In unserem Prüfraum im Keller haben F. (der Franzose) und ich eine Gehilfin bekommen, eine junge kleine Frau, die F. ausnehmend gut gefällt (elle est gentille!): Sie arbeitet bei dem Krach ruhig weiter, ist von Berlin her an derartiges gewöhnt. Sudetendeutscher Herkunft, zitierte den in ihrer Heimat kursierenden Spruch: früher hatten wir es. gut, jetzt haben wir es besser, wir möchten es aber wieder gut haben. Paßt also gut zu uns.

[…]

1.6.1944 (S. 361) f.

[…]

Im Betrieb erzählt einer, daß Russinnen, die schwanger werden, die Frucht abgetrieben wird. Bei Deutschen unterliegt dies schweren Strafen. So erstreckt sich der Lebenskampf auch aufs Biologische.

[…]

8.6.1944

Im Betrieb stolziert eine Russin umher, mit einem Kind, das sie von einem Franzosen hat. Ein Tscheche, der mir bei den Doppelfernrohren in der Montage zur Hand geht, klagte darüber, auch die tschechischen Mädchen gäben sich lieber mit Italienern und Franzosen ab, weil diese "temperamentvoller" seien.

Hatte im Betrieb längeres Gespräch mit dem Franzosen N. (dem Proustkenner). Er meinte, er stehe jenseits jedes Nationalismus.

Der Mann hat eine bewundernswerte Haltung

[…]

10.6.1944 (S. 363)

[…]

Im Betrieb erläuterte mir L. neulich die Methode, Atom zu wiegen. Das bringt also der menschliche Geist zuwege. Und in der Politik diese Unfähigkeit, Leichtfertigkeit und plumpste Ignoranz! Was für ein Widerspruch!

Meister Karl F. im Betrieb nachdenklich: wollte gern von mir wissen, was ich von der Lage halte. Er meinte: viele Hunde sind des Hasen Tod. Er ist SA-Mann, Pg. im übrigen ruhig und sachlich.

Bei einer Familie arbeitete ein bulgarisches Dienstmädchen, infolge Unkenntnis des Deutschen mehr Sklavin als "Hausangestellte". Sie bezeichnete die Waschfrau und die Aufwartefrau (die Familie lebt wie im Frieden um 1911 in jeder Beziehung) als "Damen". Sie wird belehrt: "Das sind keine Damen, das sind nur Frauen. Wir beide sind Damen!" In derselben Familie. tauchte die Frage auf: "Ob unsere Klasse mal wieder hochkommt?" Das ist doch auch eine Art von Opposition.

[…]

9.7.1944 (S. 365)

[…]

Vorgestern, am Freitag, Bombensensation bei unserer Fabrik. Wir waren gerade zu viert im Prüfraum, Karl F., der Franzose, Frau R. und ich. Es hatte vorher Alarm gegeben, aber schon seit einiger Zeit Vorentwarnung. Ich sprach gerade mit F., wir hörten Fliegergeräusch, stutzten, plötzlich das rauschende Fallgeräusch, und der Prüfrahm fing an zu tanzen und zu schaukeln, dumpfe Detonationen, worauf wir, ohne ein Wort zu verlieren, mit eingezogenen Schultern und langen Schritten zur Tür schlichen, als kämen wir von etwas Unerlaubtem. Es sah sehr komisch aus, wie Intriganten auf dem Theater. Immerhin waren etwa 150 Bomben kleinen Kalibers, zum Teil rings um das Werk herum, in die Äcker gefallen.

In der Ortschaft hatte eine Familie infolge der Vorentwarnung ihren Unterstand im Garten verlassen, zu. ihrem Glück, da eine Bombe gerade auf den Unterstand traf und ihn zusammendrückte.

In der Stadt waren die Detonationen meist unbemerkt geblieben.

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13.7.1944 (S. 366 f.)

Im Betrieb merkt man denn doch den zunehmenden Mangel an Facharbeitern, die groteske Belastung durch die "Kriegshelfer". Dazu schlechte. Organisation. Eine Lieferung von 245 Stück Reflex-Visiergeräten, die im Mai fällig war, ist heute noch nicht fertig. Seit gestern früh prüfe ich das Zeug zum zweiten Male durch. Ergebnis: etwa 50% haben Fehler, nach anderthalb Monaten! Wenn das überall so zugeht, sollten die Herrschaften gleich lieber den Laden zumachen.

Der Gau ruft überall zur Heimarbeit auf, d. h. Frauen sollen, zu Hause für die Rüstung arbeiten. Heroisch anmutende Gebärde totalen Krieges, in Wirklichkeit Unsinn: Belastung der Industrie mit Ersatzkräften. Man will natürlich die Weiber beschäftigen und beaufsichtigen, damit sie nicht untereinander Mießmacherei treiben. Eins der sich mehrenden Zeichen für die beginnende latente Panik in der Führerschicht. Sie kann niemandem mehr trauen.

So furchtbar ernst die Lage ist, so kann man sich nicht eines Hohngefühles erwehren, angesichts der Art, wie der Größenwahn unserer Herren ad absurdum geführt wird. Und bei den wenigstens Menschen ein Gefühl dafür, was unter der Decke des Scheins als Realität zu fassen ist!

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20.7.1944 (S. 367 f.)

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Vorhin kam Frau G. mit der Nachricht von dem Attentat auf Hitler, natürlich tief erschüttert. Es ist wohl möglich, daß das nächste Vierteljahr fürchterliche Ereignisse bringt.

Im Betrieb fehlt es an Spiritus, und es wird für einige Abteilungen, z. B. für die Montage, kaum noch welchen geben, heißt es. Wie knapp der Brennstoff bei uns ist, sieht man an der Luftwaffe, die kaum noch längere Bomberflüge unternimmt. Gegen England ist nur V I im Gange, was die feindliche Luftwaffe nicht zu behindern scheint.

Frieden? Ferner denn je. Denn ein Zusammenbruch bringt keinen Frieden. Es ist eine einzige Hölle.

Der Spruch, der Mensch sei nicht zum Glücklichsein da. Glück aber ist: im Rechten zu leben, richtig zu leben und fürs Richtige. Für die meisten scheint das Richtige in der Nahrungsaufnahme zu liegen, darüber hinaus reicht es nicht. Aber sie sind glücklich wie Fliegen.

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10.9.1944 (S. 371 f.)

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Wie nach außen hin mit V I, so verläßt sich die herrschende Clique nach innen nur noch auf scharfen Terror. Dabei unsinniges Durcheinander, wie z. B. hier im Gau, wo man die Musiker des Theaterorchesters mitsamt dem ganzen übrigen Personal des Theaters von heute auf morgen in der Rüstung einsetzte, die Musiker aber nach 10 Tagen wieder herauszog, um daraus ein Gau-Orchester zu formieren, das im Lande herumreisen und Konzerte geben soll.

Seit die etwa 50 Mitglieder des Theaters bei unserem Betrieb eingesetzt sind, habe ich den Intendanten als Gehilfen zur Seite – in der Montage heißt er mein "Schatten". Dies Leute bringen eine neue Note in den Betrieb, manchmal recht ergötzlich. Ich habe viel zu tun mit der Abnahme der Doppelfernrohre, jetzt fast die einzige Produktion der Firma. Viele Fachleute sind eingezogen.

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17.9.1944 (S. 374)

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Ich hatte diese letzten drei Wochen unheimlich viel Arbeit, ständig im Stehen, fühle mich erschöpft. Einen Sinn hat diese Arbeit nicht mehr. Die Leute in der Montage selbst zucken die Achseln und meinen, die Doppelfernrohre könnten wir an schweizerische Gebirgshotels verkaufen.

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30.9.1944 (S. 375 f.)

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Aus unserem Betrieb diese Woche wieder 15 Mann einberufen. Die Frau eines der Einberufenen erschien heute im Betrieb. Der Verarbeiter Z. in der Montage, ein großer Schürzenjäger, stürzte plötzlich zu mir an den Prüfstand und richtete das Doppelfernrohr auf eine Frau, die gerade die Fabrik verließ und die Straße hinunterging - er fluchte dabei leise vor sich hin, und flüsterte mir zu: "Frau B.!" Mein französischer Kollege, ein Hans Dampf in allen Gassen,- der über alles Bescheid weiß, was sich im Betrieb, im Dorf und im weiteren Umkreis, einschließlich der Stadt abspielt, erzählte mir, der einberufene B. wolle sich von seiner Frau scheiden lassen, um ein Fräulein XY zu heiraten, und es habe "un drame" gegeben. Der ganze Bau steckt voller solcher "drames", Liebesgeschichten und Klatsch, ungeachtet der Möglichkeit, daß er eines Tages von Bomben zugedeckt werden kann. Das Völkergemisch in unserem Betrieb (Franzosen, Belgier, Tschechen, Italiener, Polen, Russen) begünstigt derlei Kreuz und Querbeziehungen. Die Parole "Proletarier aller Länder vereinigt euch" ist hier gewissermaßen verwirklicht - auch das Verhältnis zu den deutschen Mitgliedern der Belegschaft ist im allgemeinen gut, wie bei arbeitenden Menschen meistens, die sich überall und in allen Zungen rasch verstehen und miteinander auf dem Duz-Fuß stehen.

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15.10.1944 (S. 377 f.)

Zwei Tage Alarmruhe. Eine wahre Wohltat und Seltenheit. Der Gegner verwendet jetzt oft Tieffliege im Hinterlande. Die Luftüberlegenheit der Anglo-Amerikaner absolut sicher.

Mädchen zwischen 20 und 25 sollen jetzt zur Flak eingezogen werden. - Hiesige Halbjuden werden zur O.T. zum Schippen verschickt auf Veranlassung der Gestapo. Noch kriegswichtiger erschient das dauernde Spazierenfahren des SS-Reiter-Regiments das neben unserem Betrieb in der ehemaligen Artillerie-Kaserne eine Reit- und Fahrschule unterhält. Die Herrschaften bewegen täglich ihre schönen Pferde vor unseren Augen auf der Straße, ihre Reit- und Fahrkünste beweisend. Und halbwüchsige Jungens oder alte Knaben werden an die Front geschickt. Das Regiment besteht z.T. aus Wallonen und sonstigen Ausländern. Wie im 30jährigen Krieg.

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Religion: Opium fürs Volk, behaupteten früher die aufgeklärten bürgerlichen Sozialisten. Das ist gar nichts gegen die weltlichen Ideologien. Zu was für einem Opiat diese werden können, das sieht man bei uns. Es hat aus einem Volk eine völlig willenlose Herde gemacht.

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25.10.1944 (S. 379 f.)

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Wehrlos dem Grauen des Untergangs ausgeliefert – dazu das pathetische Gerede der Machthaber. Vorige Woche Kundgebung auf dem Theaterplatz, alle Betriebe, wir natürlich auch. Große Menschenmenge. Der Himmel finster vor Regenwolken: in der einfallenden Dämmerung. Der Kreisleiter, Bereichsleiter Dr. Gengler (was ist ein Bereichsleiter?, kein Mensch weiß. das) redete sogar davon, daß notfalls die Frauen und Kinder auch kämpfen , müßten, hinter jedem Busch ein Volkssturmmann (mit Frau und Kind), womit er die Lage ja hinreichend kennzeichnete. Bei seinen Kunstpausen Beifallsgeschrei aus Kinderkehlen. Die Erwachsenen blieben stumm.

Herr Gengler nannte. den Aufruf des Volkssturms eine "Tat von weltgeschichtlicher Bedeutung"

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5.11.1944 (S. 381)

Heute Morgen (an einem Sonntag) der erste Volkssturmappell im Hofe des Seminargebäudes. Man fror beträchtlich bei stürmisch-kaltem Wetter. Einteilung in Zügen und Grüppen: Die SA bzw. die Partei hat die. Sache in die Hand genommen, also ist's eine politische Angelegenheit: Beaufsichtigung ,der Männer, die man in der Hand behalten will. Tolle Typen darunter, auch Krüppel. Fast keiner nimmt den Kram ernst, außer dem Theologie-Professor B., der umgeschnallt hatte und Gewehr bei Fuß stramm stand, als gälte es, vom Fleck Weg gegen den Feind zu stürmen.

12.11.1944 (S. 381 f.)

Jetzt werden einem auch noch die Sonntage besetzt. Heute morgen Vereidigung des Volkssturms. Zwei Stunden langes Stehen auf der Schillerwiese. Im Karree rund 6 000 Mann. Es nieselte Regen und Schnee. Ich sah allerlei Bekannte auftauchen, z. B. Prof. K., Major d. R., jetzt einfacher Volksstürmer unter dem Kommando eines SA-Mannes. Gengler sprach die. üblichen Phrasen. Die Leute selbst schienen. alles andere als begeistert. Von der Wehrmacht war, außer einer Kompanie, wenig zu sehen. Die zur Teilnahme aufgeforderte Bevölkerung war ausgeblieben.

Die Amerikaner machen nur langsam Fortschritte. Drücken auf Lothringen und die Rheinmündung: Seit einigen Tagen schießt V II, eine Variation von V I, auf London und Antwerpen. Auf die Bevölkerung macht das geringen Eindruck, wie überhaupt die Stimmung sehr skeptisch und bedrückt ist. Allgemein fiel auf, daß Hitler am 9. November nicht wie sonst den Mund auftat. Ein obskurer Sender hat das Gerücht abgeschossen, Hitler sei gelähmt und Himmler wolle sich an seine Stelle setzen. Tatsächlich hat Letzterer die politische Macht bzw. die Vollzugsgewalt fast vollständig in Händen.

Die relativ größten Fortschritte machen die Russen, und zwar in Ungarn, das die Deutschen in letzter Minute noch aufgefangen haben. Aber Budapest ist bedroht.

Am Nachmittag war unser Proust-Freund N. hier und brachte wie immer eine Luft humaner Gelassenheit mit. In der Fabrik hat er eine sehr untergeordnete und auch schmutzige Arbeit zu leisten. Ich bot ihm an, dafür zu sorgen, daß er eine bessere bekomme, aber er wehrte ab. Er sei völlig zufrieden damit, er könne dabei ungehindert seinen Gedanken nachhängen. Anfangs, im Jahre 1940, war er, der in seiner Heimat eine Art Provinzialschulrat war, Knecht bei einem Bauern in einem winzigen Dorf, wo er hauptsächlich einen Ochsen namens Hans zu versorgen hatte. Abends, erzählte er, habe er zuweilen, an den Rücken des Ochsen Hans gelehnt, seiner Lektüre obgelegen, Hansens Rücken als Lesepult benutzend, beim trüben Schein der Stallfunzel.

[…]

21.11.1944 (S. 384)

Heute Abend um 9 Uhr bereits der 5. Alarm. Schweres Rollen in der Ferne. Im Betrieb war Werkalarm. Der Abteilungsleiter M. und ich in der "Dunkelkammer", plauderten über die allgemeine Lage und unsere Produktion. Das Lieferungs-Defizit ist ein bißchen aufgeholt worden. Heute war das 2000. Doppelfernrohr fertig geworden. Die Leute in der Montage bauten es geburtstagsmäßig auf, mit Blumen, und das Ding wurde photographiert: Von der Leitung kümmerte sich niemand darum. Die Arbeit der Hilfskräfte, aus denen die Belegschaft sich zunehmend rekrutiert, sinkt. an Qualität von Monat zu Monat, immer mehr Zwischenkontrollen werden eingeschaltet, was den Arbeitsgang nicht beschleunigt, und trotzdem immer neue Fehlerquellen eröffnet. Niemand braucht Sabotage zu verüben. Es kommt ganz von selbst. Die Belegschaft nimmt zu, vor allem viel Frauen, und die Leistung sinkt proportional. Ab und zu versagt die Stromzufuhr.

Die West-Offensive drückt gewaltig an die Wände. Feindlicher Einbruch ins Elsaß.

24.11.1944 (S. 384 f.)

Gestern und heute abend, beide Male bei genau um 18.30 Uhr einsetzender Alarm, warfen Kampfflugzeuge Bomben auf die Stadt, nicht viele, aber doch mit einigem Schaden und etwa sieben Toten. Die Bomben fielen gut gezielt in die Stadt, hauptsächlich Bahnhofsgegend. Die Gasanstalt ist getroffen, so daß wir kein Gas mehr haben. Heute Abend sah ich mir die Geschichte im Freien an, da ich noch unterwegs war, auf dem Heimweg über die Felder, wo eine Menge Ausländer, zumeist französische Kriegsgefangene, sich in die Ackergräben verzogen hatten. Der Himmel war dick bewölkt, der Flieger schien über der Wolkendecke zu sein. Fallgeräusch aus ziemlicher Höhe, wie wenn ein voller Möbelwagen herunterkollerte, und kurz vor der Detonation starker roter Lichtschein.

Unser Betrieb arbeitet nun ohne Gas, was schwer behindert. Das angenehme Kaffeekochen im Prüfraum muß nun elektrisch vor sich gehen.

Der Feind hat Straßburg erreicht, Zabern ist verloren und damit das Elsaß. Aber auf das Elsaß wollte Hitler ja ohnehin "nie" Anspruch erheben.

26.11.1944 (S. 385 f.)

Seit gestern Vormittag etwa alle 2 Stunden Alarm, zum Teil langdauernd, aber hier kein Angriff mehr. Dafür ergießt sich bei jedem Alarm (wie eben jetzt um 11 Uhr) ein Strom von Menschen aus der Stadt ins Freie, hauptsächlich aus der allerdings besonders gefährdeten Innenstadt, die in 5 Minuten zu pulverisieren ist mit ihren Fachwerkhäusern. Der schwerste Schaden betraf neulich die Universitätsbibliothek und die Gegend der Unteren Masch, wo eine Häuserzeile schwer beschädigt ist. Es fehlt jetzt auch an Strom, so daß wir nicht kochen können, wenigstens in unserem Wohnviertel nicht. Nachts Alarm bis 3 Uhr. Wir saßen bei Freunden, zuletzt auch im Keller. Ich sollte heute morgen zum Volkssturm, den ich indessen geschwänzt habe, unter fadenscheiniger Entschuldigung.

Merkwürdigerweise fühle ich mich bei Alarm in der Fabrik wohler als zu Hause, obwohl es dort keineswegs sicherer ist. Schon wenn ich dort der unverwüstlichen Laune meines französischen Mathematikers begegne, der seine "drames" erzählt . . .

Was mich so oft irritiert, das ist nicht die Gefahr, die man ja mit allen anderen teilt, sondern das Gefühl der Wehrlosigkeit gegenüber einem riesigen Wahnsinn.

28.11.1944 (S. 386 f.)

Die Front in Lothringen rückt bis zur Saar. Den Luftkrieg führt der Gegner mit. unverminderter Energie. Gestern Luftkampf über unseren Köpfen; ein deutscher Flieger (Jäger) sauste hinter dem Dorf nieder und verbrannte. Wir konnten die Stelle im Doppelfernrohr beobachten, am Rande eines Gehölzes, umgeben von neugierigen Dorfjungens.

Fr. gestern Abend bei uns, erzählte von ihren Gauorchesterreisen, von Tiefangriffen auf den Zug, in dem sie saß und der Angst, die sie ausgestanden. Unter Lebensgefahr müssen diese harmlosen Musiker reisen, um anderswo zu spielen, wozu, das weiß keiner. Außerdem bringt sie, wie viele Göttinger, bei nächtlichem Alarm viele Stunden im Freien zu, wovon wir ihr denn doch abrieten, gesundheitshalber. Aber die Angst . . .

Die Zeitung wettert gegen diese allnächtliche und alltägliche Flucht ins Freie mit Drohungen, aber völlig vergeblich. Der geringe Schutz in der Stadt (selbst unsere im Kriege gebaute Fabrik besitzt keinen Bunker, man versammelt sich, einfach im Keller und betrachtet voll Mißtrauen die Rohrleitungen der Zentralheizung, die uns gegebenenfalls ersäufen könnten) treibt die Leute hinaus. Fr., die noch von Rostock her eine Art von Bombenchock in den Gliedern hat, sagte, sie fühle sich in Hannover sicherer als hier (weil es dort Bunker gibt), womit sie wohl recht hat.

[…]

1.12.1944 (S. 387 f.)

Der. 1. Dezember! Mein französischer Mathematiker war heute melancholisch; die Sache schien ihm aussichtslos auszusehen. Der Zustand ist begreiflich: dauernde Spannung, schon durch die vielen Alarme. Regelmäßig abends, wenn ich nach Hause komme: Alarm, gegen 22 Uhr nochmal und nachts um 2 oder 3 ebenfalls. Hannover wird immer wieder bebombt, man fragt sich, was es dort noch zu treffen gibt.

War gestern zum Volkssturm befohlen, der Direktor aber meinte, das komme gar nicht in Frage, und ließ mir eine Absage ausfertigen.

Dies Russen stehen tief in Ungarn und an. der ostpreußischen Grenze. Das ist dieselbe Großmacht, deren Zusammenbruch unsere famosen Führer im Herbst 1941 erwarteten.

Bei den Verständigeren und zwar gerade unter unseren Arbeitern herrscht die Ansicht, daß, wer jetzt sein Hab und Gut verliert, das meiste davon, jedenfalls die kostbareren Dinge wie Radios und dergl. nie wieder wird kaufen, können, einfach weil es sie nicht geben wird. Und wenn es sie wieder gibt, so sagen sie, werden wir so arm sein, daß wir sie nicht kaufen können. So heute unser Karl F., der im Prüfraum vor seinem geliebten Philipps-Radio saß, das er der Sicherung halber dort untergebracht hatte.

Es gibt immer noch kein Gas hier. Bei Alarm laufen immer noch viele Leute ins Freie, auch nachts, obgleich die Zeitung und einige Unentwegte das Maul darüber aufreißen. Aber diese Maulaufreißer verlieren kein Wort darüber, daß zahlreiche Einwohner, eigentlich alle, praktisch keinen Bombenschutz haben. Die paar Bunker im Stadtwall sind ganz unzureichend.

Von unserem Betrieb fahren zwei Mann nach Freiburg, das zerstört ist, um sich dort nach einer Firma umzusehen, die uns sonst Prismen lieferte. F. fährt mit, fragte mich, ob ich nicht mit wolle. Er rechnet mit einer Woche Abwechslung. Auf direktem Wege kommen sie gar nicht hin. Ich danke dafür.

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10.12.1944 (S. 388f.)

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Die Abgesandten unserer Firma kamen vor einigen Tagen aus Freiburg zurück, nach einer abenteuerlichen Fahrt kreuz und quer durch Süddeutschland. Die Verkehrsverhältnisse unbeschreiblich: Züge und Bahnhöfe vollgestopft. Züge fahren sozusagen improvisiert nach Zufall. Fährt ein Zug ein, so weiß keiner, von wannen er kommt und wohin er fährt. Auch der Zugführer weiß das nicht immer. Massen von flüchtenden Frauen und Kindern, um die sich keiner kümmert. In Freiburg die Innenstadt, mit Aussparung des Münsters, vollkommen zerstört.

Heute Vormittag Volkssturmdienst um 8 Uhr antreten, dann in der Lüttich-Kaserne Vorführung von Panzerfaust, Pak, MG, Gewehren, Schießen usw., alles in flüchtigster Hast, ziemlich nutzlos. Von einer Ausbildung kann dabei keine Rede sein. Es war eine Mischung von Jahrmarktrummel und Ausstellung mit Soldatenspielerei, und damit muß man seinen schwerverdienten Sonntag verbringen. Traf dabei K., in seiner Kompanie ist noch ein zweiter Major, der in voller Uniform auftrat, eine Sensation. Der Major, der sich von einem Gefreiten ein MG erklären läßt, SA-Leute und Parteileute kommandieren das Ganze. Die Leute von der Wehrmacht, meist Unteroffiziere, benahmen sich durchweg vernünftig, es mag ihnen komisch genug vorkommen. Wir froren 3 Stunden herum und verwünschten das ganze Theater von Herzen. Nur nach den Parteibeamteten sieht man sich in diesem Volkssturm vergeblich um: jedenfalls habe ich weder den Ortsgruppenleiter noch den Zellenleiter gesehen.

Unterhielt mich gelegentliche mit dem Studienrat R., der s. Zt. mit einer Gruppe HJ nach Holland mußte, wo sie in eine völlige Desorganisation hineingerieten und nur durch die Wehrmacht vor Unheil bewahrt wurden. Die zuständigen Parteistellen hatten vollständig versagt.

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17.12.1944 (S. 390)

Im. Betrieb erzählte mir einer, daß beim letzten Alarm er und einige draußen vor der Tür standen, darunter auch der Wachmann der Kriegsgefangenen. Einer kam auf die Idee, die Kriegsgefangenen (also die Franzosen) "fertig zu machen", wenn was Ernstliches passiere, der Wachmann werde wohl dann den Rücken wenden und "nichts gesehen haben". Worauf dieser erwiderte, er sei nicht nur zur Aufsicht, sondern auch zum Schutz der Kriegsgefangenen da, und bezeichnend auf seinen Karabiner schlug. So kann unter Umständen ein einziger lumpiger Idiot etwas Heilloses anrichten. Zum Glück sind zu viele Vernünftige da, die ihm sofort in den Arm fallen würden. Aber von solchen hemmungslosen Schindern wimmelts allenthalben, und sie genießen die Billigung Hitlers und seiner Trabanten ... Und vor allem beginnt dieses Gesindel sich hervorzutun, wenn es im Gebälk zu krachen beginnt. Schuld tragen diejenigen, die diese moralische Anarchie erzeugten.

[…]

1.1.1945 (S. 391)

Das neue Jahr fing verheißungsvoll an: Mittags langer Alarm, Bomben auf die Phywe, Gegend Egelsberg bis Aluminium-Werk, wo das Russenlager getroffen wurde. Heute Abend Voralarm. Von Zeit zu Zeit detonieren Blindgänger oder Zeitzünder. Es waren sehr viele Verbände in der Luft.

[…]

11.1.1945

[…]

Im Betrieb war der Abnehmer da, der in seiner Pedanterie allerlei Aufregung verursachte. W. bekam eine Zigarre, die er an F. weitergab, der sie nun seinerseits an mich hätte weiterbefördern können, was er aber nicht tat. Sturm im Wasserglase. Diese Produktion an Doppelfernrohren wird schwerlich je zur Verwendung gelangen.

Bekam eine Vorladung von der Gestapo, wegen unseres französischen Proustfreundes, der ja bei uns im Hause verkehrt hat. Der Beamte suchte zunächst unangenehme Seiten aufzuziehen, wurde aber bald höflich und sogar in gewisser Weise konziliant. Nachdem ich ihm die Sache erzählt hatte, meinte er freilich, das sei ja alles ganz schön, und er persönlich könne das schließlich verstehen, aber er müsse mich doch zur Bestrafung melden. Darauf sagte ich ihm ungefähr folgendes: "Wenn Sie das müssen, kann ich Sie natürlich nicht halten. Ich will ihnen nur noch eins sagen: ich wüßte sehr gut, daß ich einem Verbot zuwiderhandelte, genau so wie im Betrieb, wo ja schon jede Unterhaltung mit den Ausländern verboten ist. Aber wenn auch nur einer der Ausländer mal später sagen kann, er habe bei uns auch Leute kennen gelernt, die ihn menschlich behandelt haben, die kultiviert genug wären, um auch im Kriege ihre Menschlichkeit zu beweisen, dann wird so ein Zeuge mehr für die Verständigung und Versöhnung tun können, als alle Zeitungsartikel und das werden wir nach dem Kriege bitter nötig haben, ganz gleich wie der Krieg ausgeht." - Die letzten Worte betonte ich mit Nachdruck. Er sah mich einen Augenblick an und schloß dann das Verhör mit dem Bemerken, er werde dieses Mal von einer weiteren Verfolgung des Falles absehen, müsse mich aber dringend verwarnen. Dann wurde er dermaßen höflich und urban, daß ich den Eindruck gewann, er wünschte seinerseits, daß ich sagen könnte: die Gestapo? Aber da wird man ja ausnehmend freundlich behandelt! Immerhin war ich doch in wenig verblüfft gewesen, daß er so plötzlich umschlug. Gewissermaßen war es mir nicht mehr darauf angekommen, von der Leber weg zu sprechen.

[…]

31.1.1945 (S. 397)

Hitlers Ansprache zum 30. Januar, dem 12. Jahrestage dieses verhängnisvollen Regimes, enthielt sich jeder Ankündigung einer entscheidenden Wendung durch neue Waffen, prophezeite vielmehr, England werde nicht in der Lage sein, den Bolschewismus abzuwehren. Er hatte nichts Positives aufzuweisen als sich selbst und den Geist des Nationalsozialismus, der der Garant des Sieges sei, das übliche Vokabular mit "kompromißlos", unabänderlich usw.

Drei Tage Dienst der Alarmkompanie des Volkssturms, in die ich versetzt bin. Nachmittagsdienst. Ein Pensum, das der Soldat in mehreren Wochen lernt (allenfalls), in drei halben Tagen zu bewältigen, natürlich völlig unzulänglich. Als Truppe ist so etwas nicht ernst zu nehmen.

Der elektrische Strom ab heute alle 2 Stunden gesperrt. Praktisch bedeutet das Lahmlegung der Betriebe. Alle diese Kleinigkeiten brauchen natürlich den Führer nicht zu stören. Für ihn steht es fest, daß der Allmächtige, in dessen Anrufung er sich jetzt nicht genug tun kann, ihm den Auftrag gegeben habe und ihn deshalb nicht im Stich lassen werde. Gerade im 20. Juli sieht er den Beweis ...

1.2.1945 (S. 397 f.)

[…]

Gestern letzter Nachmittag in der Ausbildung der Alarmkompanie. Wir marschierten zum Kerstlingeröder Feld, dort Feldübung beim sogen. Russendorf, einer Ansammlung von künstlichen Hausruinen: Metertiefer Schnee. Ein alter Offizier leitete das Ganze und hielt zum Schluß eine asthmatische Ansprache, obwohl gerade er doch wissen mußte, was diese Spielerei wert ist. Diese erbitternde Macht der Dummheit, der Denkfaulheit, es fehlen die Worte dafür. Kam völlig erschöpft nach Hause. Es ist noch mehr der Blödsinn als die Strapaze selbst, die einen fertig macht. Zur Zeit Vollalarm, Gott sei Dank, dafür fällt der Volkssturmdienst heute Abend aus, wie schon öfters.

[…]

8.2.1945 (S. 399)

[…]

Vorgestern Abend, als ich todmüde nach Hause kam, Volkssturm-Alarm, mußte gleich wieder weg. Es war nur eine Anwesenheitskontrolle, aber die Alarmkompanie mußte noch zur Polizei, wo sich herausstellte, daß wir an Stelle der früheren Stadtwacht Dienst tun sollen, und aus dem eigentlichen Volkssturmdienst ausscheiden. Der Bataillonskommandeur, ein Professor der Universität, hielt eine Art Abschiedsansprache: Ich verstehe den Mann nicht: dieser ganze Volkssturm-Zauber schreit förmlich nach Satire, Hohn und Spott, und dieser Kerl, ein Hochschullehrer, ein "gebildeter Mensch", benimmt sich, als sei ihm eine tiefernste Offenbarung zuteil geworden. Das ist das Merkwürdige an diesen Typen: ist so ein Professor einmal Offizier, dann verschwindet alles an ihm, was auch nur entfernt an den Menschen des Geistes, den Gelehrten erinnern könnte. Der Geltungstrieb schießt in jede Lebensform, vorausgesetzt, daß sie ihn befriedigt, und füllt sie bis zur letzten Ader aus, sie platzen dann förmlich vor Wichtigkeit, ihre allgemeinere Denkfähigkeit erlischt restlos. Und das bei einem Philologen, dessen Hauptfähigkeit die Gabe des Unterscheidungsvermögens, der Kritik sein soll!

Diese Versetzung der Alarmkompanie hat wenigstens das eine Gute für sich, daß wir in der Stadt bleiben, also nicht ohne weiteres irgendwo "geopfert" werden, wie das anscheinend vorkommt. Das kann sich freilich alle Tage ändern, denn die Maßnahmen, lassen ein beträchtliches Maß an Kopflosigkeit erraten.

In den Betrieben fehlt es vielfach an Arbeit wegen Materialmangel. Lebensmittel werden eingeschränkt.

12.2.1945 (S. 399 f.)

[...]

Es hat hier neulich wieder einen kleinen Angriff gegeben, 21 Tote, davon 10 Ausländer.

[...]

21.2.1945 (S. 401 f.)

[...]

Dieser Tage wurden die letzten Juden (aus Mischehen) abtransportiert, unter dem Vorgeben, sie vor etwaigen Ausbrüchen des Volkes in Sicherheit zu bringen. Einige haben Veronal genommen, zu wenig und liegen in der Klinik. Dr. L. soll sich einiger solcher Kranken so energisch angenommen haben, daß ihm die Papiere abgenommen sein sollen.

Die Alarme hier, besonders die Voralarme, dehnen sich immer länger aus, so daß man inzwischen vergißt, was los ist. In den Keller geht man dabei nur, wenn Flugzeuge hörbar werden.

23. 2. 45

Wieder Bomben auf die Gegend der Bahnlinie. Bei der Firma S. das Verwaltungsgebäude völlig zerstört, die Arndtstraße schwer getroffen, die Brauerei 2 Volltreffer, Güterbahnhof getroffen. Allgemeine Flucht unserer Frauen aus, dem Betrieb, was als verboten gilt, und viele Debatten darüber.

28. 2. 45

Hörte gestern abend bei tiefer Nebeldämmerung das erste Amsellied.

Infolge der vielen Alarme bin ich im Betrieb täglich stundenlang auf Beobachtung, heute etwa 4 Stunden. Oft geben wir Werkalarm, der erst im letzten Moment gegeben werden soll, wenn unmittelbare Gefahr droht. Die Debatten darüber, ob die Belegschaft: das Werk bei öffentlichem Alarm verlassen soll oder nicht, reißen nicht ab. Aus den anderen Werken strömen jedesmal Scharen heraus in den Wald. Wenigstens dürfen bei uns jetzt die Frauen, welche Kinder haben, alte Frauen und "nervöse" bei öffentlichem Voralarm nach Hause. Die Frage ist tatsächlich ernsthaft, nicht leicht zu entscheiden, da die Leute, die in Kolonnen in die Waldränder streben, nicht so schnell laufen wie Flugzeuge fliegen und unangenehm überrascht werden können. Die Belegschaft ist recht nervös geworden. Die Beobachterei auf dem Dach oder im "Turm" (am Telephon, das die Meldungen der Warnstellen durchgibt) ist, abgesehen von ihrer beträchtlichen Nutzlosigkeit, nicht sehr angenehm, obgleich das Wetter sehr milde ist für diese Jahreszeit.

In der Zeitung wird mit allen Mitteln auf die Stimmung getrommelt; die ganze Berichterstattung dient ausschließlich diesem Zweck. Sehr breiten Raum nehmen feindliche Verschickungs-Projekte ein: 10 Millionen Deutsche sollen deportiert werden. Unsere famosen Propagandisten vergessen nur darüber, daß sie selbst 13 Millionen Ausländer de- oder importiert und Tausende von russischen Kriegsgefangenen haben verhungern lassen.

Heute Trauerfeier für die Toten vom 22. Februar. Das Widerliche, daß man dies nicht aus Ehrfurcht vor den Toten, sondern aus Gründen der Propaganda macht. Gestern abend Dienst bei der Alarmkompanie im Polizeihaus, um 9 Uhr konnten wir wieder nach Hause; der Zugführer, ehemaliger Feldwebel, scheint ein verständiger Mann. Wir wurden aber zur Trauerfeier bestellt, vor der ich mich drückte. Ich kann das Phrasendreschen nicht mehr anhören.

[…]

25.3.1945 (S. 406 f.)

[…]

Die Stimmung der Bevölkerung sehr schlecht, ohne jede Hoffnung. Dazu erwartet man weitergehende Verminderung der Rationen. Im Betrieb sieht man, wie die früher so Unentwegten jetzt, mit ganz wenigen Ausnahmen, die Nerven verlieren, während die von jeder Skeptischen noch am meisten Haltung bewahren.

[…]

12. 4. 45 (S. 408-410)

Am Sonntag, dem 8. April 45, ist unsere Stadt kampflos übergeben worden, nachdem oder während bereits die ersten Artillerieschüsse einschlugen. Das war um 13. Uhr.

Ich war mit einigen anderen in der Fabrik, gearbeitet wurde nicht mehr, überdies gab es keinen Strom, der bis heute ausblieb. Göttingens Schicksal hing an einem Faden. Zwei Tage vorher wurden noch die Bahnanlagen schwer mit Bomben belegt, was man sich wahrscheinlich hätte ersparen können, wenn dieser Idiot von Kreisleiter sich dazu hätte entschließen können, G. zur offenen Stadt zu erklären. In der Zeitung erschien noch ein ganzseitiger Aufruf des Gauleiters Lauterbacher mit der Überschrift "Lieber tot als Sklav!", worauf jener Feigling von Kreisleiter auf Verteidigung der Stadt bestanden haben soll. Bis zum Sonntag war, soweit die Bevölkerung unterrichtet war, die Frage offen geblieben. Niemand wußte, was kommen würde, wer die Stadt "verteidigen" sollte. In der Bevölkerung, auch bei den ehemaligen Pg.s, herrschte eine helle Wut auf den Kreisleiter Gengler. Er soll noch die Absicht gehabt haben, seinen Befehlsstand in der Levinschen Villa, den er sich im letzten Jahr hatte bauen lassen, in die Luft zu sprengen, soll betrunken gewesen sein usw. Ein Polizeihauptmann soll ihn zum Verlassen der Stadt gezwungen haben. Jedenfalls ist er verduftet unter Hinterlassung eines sehr schlechten. Andenkens.

Ich wurde am Donnerstag vor Ostern, d. h. am 29. 3., abends um 9 Uhr, zur Alarmkompanie befohlen. Wir sollten zur Bewachung der Ausländer eingesetzt werden, als Hilfspolizei: Am Karfreitag, früh um 5 Uhr, begann der Dienst, Streif- und Wachdienst. Vom Sonnabend ab hatte ich mit 5 Mann Wachdienst im Gemeindehaus der Albani-Kirche. Gott sei Dank: wir waren nur wenige, blieben unter uns und wurden wenig kontrolliert. Die ganze Maßnahme war eigentlich überflüssig und verfehlt, da dauernd Hunderte von ausländischen Zivilarbeitern ständig unterwegs waren von und zur Arbeit, besonders durch die ständigen Alarme. Unsere Bewachten im Gemeindehaus, die tagsüber, bis auf einige Kranke, in ihren Betrieb gingen, lachten über das Theater und wir auch.

In den Ostertagen kamen ständig Trupps von auswärtigen französischen und russischen Zivilarbeitern an, zumeist von Kassel, ohne jede Begleitung. Und wir "bewachten" hier die Ausländer, die viel zu vernünftig wären, um im letzten Augenblick vor ihrer Befreiung irgendwelche Dummheiten zu machen, mit geladenem Gewehr.

Die Zeitung brachte ihre tägliche Schönfärberei, auf die niemand mehr hereinfiel. Die Kritik an der Parteiführung wuchs von Tag zu Tag bis zum "Haß. Bis gegen Ende der Woche sah es so aus, als würde Göttingen in einem Kessel liegen gelassen. Es war alles ganz ungewiß, niemand wußte Genaueres über die Lage.

Wir mußten bei dem Gemeindehaus auch nachts Posten stehen, man kam nicht zum Ausschlafen. Manchmal kamen Kolonnen durch die nächtliche Stadt, unheimlich auf der Flucht. Gegenüber dem Gemeindehaus in dem früheren Polizeirevier: das Volkssturmkommando, wo wichtigtuende Herren aus- und eingingen. Der Kommandeur, der Philologie-Professor, spazierte oft stundenlang auf dem Platz auf und ab, in Wehrmachtsuniform, und gab Audienzen, zuletzt aber in Zivil und in bedeutend bescheidenerer Haltung. Er war einer der Unentwegten gewesen, vielleicht wird er in Zukunft lernen, sich auf seine sogenannte Wissenschaft zu beschränken. Es gibt jetzt Figuren, die einen restlos anekeln können.

Am 6. April war ich wieder draußen im Werk. Der Direktor, der zufällig erfahren hatte, daß ich in den USA geboren bin, veranlaßte sofort meine Befreiung von der Alarm-Kompanie. Am Freitag abend kam ich nach Hause, froh und begierig, nach einer Woche Frieren und Wachen endlich einmal eine Nacht durchschlafen zu können. Aber um Mitternacht erschien Fr., sehr verängstigt: die politischen Leiter gingen herum mit der Anordnung, alle Frauen und Kinder ins Freie zu treiben, der Feind sei noch in der Nacht zu erwarten. Wir beruhigten sie und schickten sie wieder nach Hause, sie solle um Himmels Willen nicht in die Wälder flüchten. Darauf erschien dann auch der Blockleiter R. mit demselben Unsinn, freilich hinzusetzend, wer wolle, könne auch hierbleiben. Wir legten uns wieder hin, aber um 2 Uhr erschien ein Wachmann aus der Fabrik: ich solle sofort ins Werk kommen. Ich hatte das Gefühl, alle Welt sei verrückt geworden, schickte den Wachmann weg und ging erst im Morgengrauen hin. Es war alles still, dunkel, schwer mit Wolken verhängter Himmel. Im Werk wurde kaum noch etwas getan. Man wartete der Dinge, die da kommen sollten. Zwischendurch Alarme, aber weniger als sonst. Am Sonntag Vormittag, gerade, als ich einmal in die Befehlsstelle kam, gab die hübsche. Telefonistin, die die Meldungen immer aufnahm, mit merkwürdig unerregter Stimme bekannt: "Feindalarm. Der Warndienst stellte seinen Betrieb ein." Dann hing sie ein.

Gegen Mittag erschienen zwei oder drei Artillerieflieger über der Stadt, und wir sahen die Einschläge von einem Dutzend Granaten. Dann war Stille, wir erfuhren nichts, bis am Nachmittag, einer in die Stadt fuhr und eine Stunde später berichtete, die Amerikaner seien da; alles wickelte sich in Ordnung ab.

Dann kamen sie öfter, kleine Trupps mit und ohne Offizieren, durchweg von korrektem, legerem Benehmen. Wir betrachteten staunend die restlose Motorisierung dieser Armee, die einen mehr technischen als militärischen Eindruck macht, und dachten an unsere armen Infanteristen, die, ohne genügende Bewaffnung, ohne Luftwaffe diesen Koloß hatten aufhalten sollen.

13.4.1945 (S. 411)

Im deutschen Wehrmachtsbericht soll gestanden haben, Göttingen sei nach schweren Kämpfen gefallen: eine der üblichen Unwahrheiten. Den meisten dürfte klar geworden sein, welch verhängnisvolle Rolle die Partei gespielt hat und noch spielt: Sie wirft Menschen und Städte in den aussichtslosen Kampf, vollkommen skrupellos, sinnlos, kopflos ... Das Debakel ist so vollständig wie möglich. Gestern hieß es, Hitler habe noch einmal über den Rundfunk gesprochen und den Sieg in Aussicht gestellt. Wenn das wahr ist, so ist er in der Tat wahnsinnig.

Bei Bekannten fand ich sein Buch "Mein Kampf" in der 6. Auflage von 1933, blätterte darin und fand zufällig folgenden Satz: "Eine Diplomatie hat dafür zu sorgen, daß ein Volk nicht heroisch untergeht, sondern praktisch erhalten bleibt. Jeder Weg, der hierzu führt, ist dann zweckmäßig, und sein Nichtbegehen muß als pflichtvergessenes Verbrechen bezeichnet. werden."

Ich habe den Satz, trotz seinem miserablen Deutsch, auswendig gelernt. Der Verfasser scheint ihn nicht auswendig gelernt zu haben.

 


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