NS-Zwangsarbeiter: Juden, die getarnt als nichtjüdische Zwangsarbeiter überlebten

"Vom Zehneckturm ist der Anfang der Feldstraße zu sehen ...
Auf dieser Straße fuhren sie am 5. November 42 die Kozker Juden zur Bahnstation Bedlno. Sie brachten sie auf Fuhrwerken fort. Vor dem Krieg wohnten in Kozk zweitausendzweihundertvierzehn Juden, fünfundzwanzig waren in der Vorratshütte, einige versteckten sich in der Umgebung, an die zweitausend mußten mit den Fuhrwerken transportiert werden. Auf eine Fuhre kamen zwanzig Personen, dazu noch Rucksäcke, Kopfkissen, irgendeine Schüssel, irgendein Topf... Es mußten so um die hundert Fuhren gewesen sein. Sie fuhren vom Morgengrauen bis in den späten Nachmittag. [....]
Am Tag zuvor, am vierten November, ging Apolonia Machszynska zu den Eltern eines jungen Mädchens, Ryfka Blatt. Sie schlug vor, sie in Warschau bei zweien ihrer Schwäger zu verstecken. "Sie meinte, daß ich nicht wie eine Jüdin aussähe, und daß es eine Sünde wäre, mich umkommen zu lassen", schrieb Ryfka Blatt an Slawomir Switatek, den Sohn der Apolonia Machczynska. "Sie können sich nicht erinnern an diese Zeiten, mein Herr, doch ich kann Ihnen versichern, daß solche Worte aus dem Munde eines Polen selten zu hören waren. Ich war mir dessen sicher, daß ich dafür zahlen muß, und solche Zahlungen waren mit Riesensummen verbunden, und bei mir reichte es nicht einmal für eine kleine Summe. Ihre Mutter begann zu lachen und sagte: wer wird denn von Geld reden."
Apolonia Machczynska gab der Ryfka Blatt die Papiere von Ksawera Kawkowa, mit denen sie nach Warschau und dann zur Zwangsarbeit nach Deutschland fuhr und den Krieg überlebte."

Hanna Krall, Legoland, Frankfurt am Main 1990, S. 122.

Auch in Göttingen gab es eine Reihe von polnischen und auch sowjetischen Juden, denen es gelang, getarnt als nichtjüdische Zwangsarbeiter die NS-Zeit zu überleben. Wegen der benutzten falschen Namen sind auf solche Weise "untergetauchte" Juden in den Akten eigentlich nur dann zu finden, wenn die Betroffenen enttarnt wurden oder ihr Judesein nach dem Krieg gegenüber den Behörden selbst offenbarten.

  • Letzteres tat Leopold L. alias Sammi M. in einem für seinen Aufnahmeantrag in die jüdische Gemeinde Göttingen verfassten Lebenslauf vom 28. Oktober 1952:

    "Am 7. Oktober 1921 wurde ich als dritter Sohn der Eheleute Adolf und Rosa M., geb. H., in Lemberg geboren. Ich besuchte vom 6. Lebensjahr ab die Volksschule in Lemberg und ab dem 12. Lebensjahr das private jüdische Gymnasium bis 1939 (Abschluss Abitur). Meine Absicht, die Technische Hochschule in Lemberg zu besuchen, schlug fehl, weil inzwischen der Krieg ausgebrochen war. Ich arbeitete als Geschäftsführer im elterlichen Betrieb, der aus 3 Konditoreien mit der Firmenbezeichnung Picadilly, bestand. Der Betrieb wurde durch den Tod meines Vaters im Jahre 1933 auf uns drei Söhne überschrieben. Um nicht als Kapitalist vor den Russen zu gelten [Lemberg war 1939 zur Sowjetunion gekommen - C.T.] und der Gefahr zu entgehen, evtl. nach Russland deportiert zu werden, suchte ich mir eine Arbeitsstelle bei der Post als Magazinverwalter. Ich arbeitete dort, bis zum Einzug der deutschen Armee im Jahre 1941. Dadurch verschlimmerte sich meine Lage insofern, als sofort sämtliches Vermögen (2 Grundstücke) sowie der gesamte Betrieb beschlagnahmt wurden. Darüber hinaus begann die Judenverfolgung. Ich wurde mit meinen Angehörigen gezwungen, meine Wohnung zu verlassen und in das inzwischen erstellte Getto einzuziehen. Ich wurde einer Malerkolonne zugeteilt. Im Frühjahr 1942 heiratete ich die Jüdin Eugenie Frenkel. Sie wurde im Juni 1942 zusammen mit meiner Mutter aufgrund der sogenanten Frauenaussiedlung verschleppt. Bis heute habe ich keinerlei Lebenszeichen von ihr. Infolge weiterer Verschleppungen bestand auch für mich die Gefahr, ausgesiedelt zu werden. Im Oktober 1942 flüchtete ich mich mit meinem Bruder Carol durch Beschaffung von arischen Papieren nach Warschau. Die Papiere lauteten auf den Namen L., den ich heute noch trage. Mein 2. Bruder wurde inzwischen mit seiner Familie erschossen. In Warschau lebte ich illegal bis zum Ausbruch des Aufstandes im Herbst 1944. Ich wurde als Zivilzwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. In Glogau wurde ich bei der Reichsbahn als Lokheizer eingesetzt. Die gesamte Dienststelle wurde durch Näherrücken der Russen nach Göttingen versetzt. Hier wurde ich wieder als Heizer eingesetzt und im Februar 1945 durch Bombenangriff schwer verwundet. Ich lag 10 Tage ohne Besinnung und wurde durch das internationale Rote Kreuz gepflegt. Dort lag ich bis Ende April 1945. Inzwischen wurde ich durch die amerikanische Armee befreit."

    Sammi M., alias Leopold L. [Sammi M. hatte ein sehr polnisch klingenden Namen auf ...inski als Tarnnamen gewählt - C.T.], konnte Zeugen für seine Identität beibringen (sein im Lebenslauf erwähnter Bruder Carol hatte auch überlebt) und so nahm ihn der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachens per Schreiben vom 31. Dezember 1952 in die jüdische Gemeinde auf - unter der Bedingung, dass er wieder seinen richtigen Namen Sammi Meisels annehmen sollte. Zwar trat Sammi M., alias Leopold L. daraufhin im Januar 1953 immerhin aus der katholischen Kirche aus, korrespondierte aber im Mai 1954 noch immer unter dem Namen, unter dem ihn in Göttingen jeder kannte: Leopold L. - ein Zeichen dafür, welche Identitätsverwerfungen selbst eine solche gelungene Rettungsaktion zur Folge hatten.

  • Wir wissen von einem weiteren polnischen Juden, der in Göttingen als Zwangsarbeiter und zwar wieder bei der Reichsbahn überlebte. Jan D., geb. am 5. März 1913, schrieb im Jahre 1968 von Australien aus, wohin er inzwischen emigriert war, an die deutschen Behörden wegen einer Entschädigung. Ich zitiere aus der Weitergabe seiner Anfrage an die Stadt Göttingen durch den Regierungspräsidenten:

    ""Der Antragsteller führt zur Begründung seines Antrages auf Entschädigung für Freiheitsschaden wegen Lebens in der Illegalität unter menschenunwürdigen Bedingungen an, er habe als polnischer Jude, um nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen zu entgegen, den Namen Jan Leopold D...owski angenommen. Nach seiner Verhaftung durch die Gestapo habe er jede Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse bestritten und sei daraufhin als Pole zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschickt worden. Hier sei er im Lager Güterbahnhof Göttingen in der Zeit von Mai 1943 bis Ende April 1945 kaserniert gewesen und habe tägliche Zwangsarbeit als Rangierer bei der Reichsbahn verrichten müssen.
    Für die Frage, ob dem Antragsteller ein Anspruch auf Entschädigung nach dem BEG für die Zwangsarbeit in Göttingen zusteht, ist es von Bedeutung, ob der Aufenthalt im Lager Güterbahnhof Göttingen ein Leben unter menschenunwürdigen Bedingungen gewesen ist. Ich bitte deshalb um Ermittlungen, wie die Verhältnisse im genannten Lager gewesen sind. Es ist mir insbesondere an der Feststellung von Zeugen gelegen, die über dieses Lager aus eigener Anschauung aussagen können."

    Zeugen für die Verhältnisse in den Reichsbahnlagern (so es sie denn zu diesem Zeitpunkt in Göttingen gegeben hätte) brachte die Stadt Göttingen nicht bei, sie fragte lediglich bei der Bundesbahn (als Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn) an:

    "Aus unseren alten Arbeiterlisten", antwortete die Bundesbahn, "geht hervor, daß ein Leopold D...owski in der Zeit vom 14.10.1944 -9.4.1945 bei unserer Dienststelle als Fremdarbeiter beschäftigt war. Wenn er Dienst als Rangierer verrichtet hat, wurde diese Arbeit nicht unter Bewachung und Zwang verrichtet; auf dem weiten Gelände des Rangierbahnhofes waren Fremdarbeiter in der Ausführung deutschen Arbeitern gleichgestellt. Ob D...owski bereits von Mai 1943 hier gearbeitet hat, können wir leider nicht mehr feststellen, da unserer gesamten Personalunterlagen, Lohnlisten usw. durch die Kriegsereignisse vernichtet sind."

    Bei sehr wohlwollender Betrachtung mag dies in den letzten Kriegsmonaten, in denen kaum noch Deutsche bei der Reichsbahn arbeiteten, für den Arbeitsprozess im engeren Sinne vielleicht tatsächlich zutreffend gewesen zu sein, wobei natürlich einer Gruppe von "Fremdarbeitern" immer ein deutscher Vorarbeiter und/oder Aufpasser zugeteilt war. Völlig außer Acht gelassen wurde bei dieser Sichtweise jedoch, die Tatsache der Deportation aus dem Heimatland, die unzureichende Ernährung, die - wie wir aus vielen Zeitzeugenaussagen wissen - häufig nicht gezahlte Entlohnung - und die für die osteuropäischen Zwangsarbeiter vorgeschriebene Lagerunterbringung. Jan D. wurde in der Antwort der Bundesbahn im Übrigen nicht wie ein überlebender Jude, sondern wie ein ausländischer nichtjüdischer Zwangsarbeiter behandelt, für die die Bundesregierung bis Anfang der 90er Jahre sich grundsätzlich weigerte, wie auch immer geartete Entschädigungszahlungen zu leisten.

  • Alex Bruns-Wüstefeld berichtet in seiner verdienstvollen Studie "Lohnende Geschäfte. Die 'Entjudung' der Wirtschaft am Beispiel Göttingens" auch von einem Göttinger Juden, der getarnt als holländischer Zwangarbeiter überlebte: Heinz Meyerstein arbeitete als Vorbereitung für seine Auswanderung nach Palästina in einem Werkdorf in Holland, als die Deutschen einmarschierten. Im März 1943 tauchte er unter und erhielt von der Widerstandsbewegung falsche Papiere, mit denen er als holländischer Zwangsarbeiter unter dem Namen Cornelis Hogenbirk nach Deutschland ging, weil er sonst keine Lebensmittelkarten bekommen hätte. Mit einem Zwangsarbeiterausweis und einem Gestapoausweis fuhr er dann von Zwangsarbeiterlager zu Zwangsarbeiterlager, wo er jeweils nur ein paar Wochen blieb. In Dortmund arbeitete er beispielsweise drei Monate in einer Geschossfabrik. Über Belgien gelangte er schließlich nach Frankreich, wo er nochmals einige Zeit in Bordeaux bei der Organisation Todt arbeitete. Von dort gelang im schließlich im März 1944 die Flucht nach Spanien, von wo er ein dreiviertel Jahr später via Portugal nach Plästina auswandern konnte.

    In Göttingen selbst überlebten also mindestens zwei - sehr wahrscheinlich sehr viel mehr - polnische Juden getarnt als nichtjüdische Zwangsarbeiter. Dies konnte man aus Akten erfahren, die sich im Stadtarchiv Göttingen befinden, und war daher schon länger bekannt. Gänzlich unbekannt war aber bis vor kurzen, dass auch Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, dass auch wie in Hanna Kralls Geschichte Jüdinnen in Göttingen überlebten. Davon wissen wir nur durch Zeitzeugenaussagen von "Ostarbeiterinnen" (in einem Fall sogar von einer selbst betroffenen):

  • "Die meisten waren Ukrainer und Russen; zwei waren Jüdinnen", schrieb Maria Jemeljanowa L., die bei der Phywe Zwangsarbeit verrichtete, im November 2000. Ihrem Brief legte sie einen Zettel, auf dem sie 32 Namen aufführte von "Mädchen, an die ich mich erinnere und mit denen ich gearbeitet habe": Auf diesem Zettel standen auch: "Lida und Lena, Schwestern, Jüdinnen aus Leningrad" - einfach so, ohne weitere Erklärung, als sei dies ganz selbstverständlich. Auf Nachfragen antwortete sie in einem zweiten Brief, dass die beiden ihr selbst erzählt hätten, dass sie Jüdinnen seien und dass sogar Meister Lorenzen [ev. Karl Lorenz, Abteilungsleiter nach dem Göttinger Adressbuch von 1939 - C.T.] und Frau Meyer, die die Zwangsarbeiterinnen bei der Phywe beaufsichtigten, Bescheid gewusst hätten. Lida und Lena hätten den Krieg überlebt und seien mit ihnen zusammen nach Hause gekommen. "Sie fragen", fügte Maria Jemeljanowa hinzu, "wie die beiden nach Deutschland gekommen seien. Sie erzählten uns, dass sie in Leningrad im Schützengraben waren und von dort nach Deutschland kamen."

    Wenn dies alles wirklich zutreffend ist, dann wäre das Überleben von Lida und Lena nicht nur deswegen sehr erstaunlich, weil deutsche Vorgesetzte von ihrer Identität wussten, sondern auch und vor allem deshalb, weil es sich bei ihnen offenbar um weibliche Angehörige der Roten Armee gehandelt hat. Denn die Frauen in der Roten Armee, von denen viele - wie offenbar auch Lida und Lena - aktiv am Kampfgeschehen teilnahmen, stießen bei den männerfixierten deutschen Militärs auf besonderen Hass und Ablehnung. Bereits zu Beginn des Russlandfeldzuges scheint es einen Geheimbefehl gegeben zu haben, nach dem alle "Flintenweiber", so die Bezeichnung der NS- und Wehrmachtführung für weibliche Mitglieder der sowjetischen Armee, zu erschießen seien. Lena und Lida waren daher nicht nur als Jüdinnen, sondern auch als weibliche Angehörige der Roten Armee besonders gefährdet. Gerettet hat sie wohl, dass sich im Laufe des Jahres 1942 eine etwas pragmatischere Haltung durchsetzte und man einen Teil der Frauen wie beispielsweise das Sanitätspersonal und einfache Soldatinnen nach Deutschland in die Zwangsarbeit schickte.

  • Polina Aleksejewna L., geb. 18.6.1926, wurde im August 1943 nach Deutschland deportiert. Sie arbeitete zunächst in einem Göttinger Rüstungsbetrieb, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte, und kam dann in die studentische Mensa, die damals einen privaten Betreiber hatte. Nach einer Erkrankung wurde sie im Reichsbahnausbesserungswerk eingesetzt. Gelebt hat sie während ihrer gesamten Göttinger Zeit im größten Göttinger "Ostarbeiterlager" auf dem Schützenplatz. Polina Aleksejewna schrieb:
    "In der Mensa habe ich bis zum 4. Juni 1944 gearbeitet. Dann traf mich [...] ein Unglück: ein nasses Exkzem im Gesicht. Ich wurde von dem Lagerarzt behandelt, er war ein Deutscher. Er hat mich mit verschiedenen Salben behandelt, aber die Krankheit wurde immer schlimmer. Und was am schlimmsten war, das Ekzem griff auf meine Augen über. Ich konnte nicht mehr arbeiten. Wir wohnten zu viert in einem Raum. [...] Ich als Kranke kam zu einer älteren Frau, die im Lager geputzt hat.
    Diese Frau hat meine Angst und die Gefahr, mit 17 Jahren blind zu werden, gesehen. Sie hatte eine Tochter in dem Alter, die gestorben war. Und sie versuchte, mir zu helfen. [...], sie war Ärztin von Beruf. Vorher hatte sie in einem Krankenhaus gearbeitet. Von dort war sie in Gefangenschaft geraten und wurde nach Deutschland verschleppt. Sie riskierte ihr eigenes Leben und hat sich entschieden, mir zu helfen. Sie hat eine Rezeptur für eine Salbe aufgeschrieben und mich gebeten, sie nicht zu verraten, weil sie Jüdin war."
    [...] Es ist sehr schwer für mich, mich an diese Frau zu erinnern. Sie war für mich wie eine echte Mutter, anders kann ich es nicht sagen.
    Wusste jemand im Lager, dass sie Jüdin war? Von dem ganzen Lager weiß ich das nicht. In dem Zimmer, in dem [sie] lebte, lebten noch vier andere Mädchen. Eine von ihnen hat sie verhöhnt und gedroht, den Deutschen zu berichten, dass sie Jüdin ist. Und die Frau hatte deshalb Angst. Ich versuchte sie zu beschützen, soweit ich es konnte. Sie tat mir wirklich Leid. [...]
    [Sie] hat im Lager geputzt und immer fand sie einige Minuten, um mich zu trösten. Sie sagte, ich soll mich beruhigen, meine Krankheit sei heilbar.
    Ich habe sie gefragt: "Woher wissen Sie das?"
    Sie hat ein bisschen nachgedacht und mir geantwortet: "Du bist noch jung und, wahrscheinlich, [...] wirst [du] diese Zeit überleben. Ich will, dass du dich an meine Namen erinnerst. Ich weiss, dass du kein dummes Mädchen bist. Und ich habe mich entschieden, mich dir wie einer Tochter anzuvertrauen, weil du mich nicht verraten wirst. Ja! Ich bin Jüdin und Ärztin aus der Stadt Kiew. Ich bin ein Mensch und will leben, wie meine Tochter und mein Mann leben wollten. Aber es gibt sie nicht mehr." Und bei diesen Worten begann sie bitterlich zu weinen."

    "Ich will, dass Du Dich an meinen Namen erinnerst" - genau das hat Polina Aleksejewna getan und deshalb kennen auch wir heute den Namen dieser jüdischen Ärztin, deren Mann und Tochter von den Deutschen ermordet wurden und die selbst direkt aus dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete, zur Zwangsarbeit nach Göttingen verschleppt wurde:

  • Helena Browtschinsky, oder wie sich Polina Aleksejewna in der korrekten weiblichen Form des Namens richtig erinnerte, Elena Stepanowa Browtschinskaja, geb. am 5.6.1899, arbeitete in Göttingen zunächst bei Albert Rust, dem Inhaber der Firma Winkelhoff & Glaeser als Hausgehilfin in dessen Privatwohnung in der Düsteren Straße 24/25. Deshalb ist auch die Einwohnermeldekarte von ihr erhalten. Denn die im Haushalt beschäftigen "Ostarbeiterinnen" wurden zumeist ordentlich gemeldet, während dies in den Betrieben nur sehr selten geschah. Möglich, dass auch Rust davon wusste oder es ahnte, dass Helena Browtschinskaja Jüdin war. Denn Albert Rust war bis zu deren Deportation eng mit den bedeutendsten jüdischen Göttinger Geschäftsleuten Nathan und Max Raphael Hahn befreundet, von deren großen Fabrikgrundstück in der Weender Landstraße 59 er schon seit Beginn der 1920er Jahre große Teile gepachtet hatte, die er bei Auslaufen des Pachtvertrags 1930 erwarb. Diese Freundschaft hinderte Rust allerdings nicht daran, schon 1932 die nationalsozialistische Bewegung durch eine Annonce zu unterstützten, aber so widersprüchlich verhielten sich nicht nur Geschäftsleute, die auf ihre jüdischen Geschäftspartner nichts kommen ließen. Spätestens im Januar 1944 kam Helena Browtschinskaja dann nach einer Aktennotiz auf dieser Karte ins Lager Schützenplatz, in die Baracke 8, in der auch Polina Aleksjewna untergebracht war, wie sie sich - ohne Kenntnis von dieser Einwohnermeldekarte - richtig erinnerte. Und dort schrieb sie eine Rezeptur für eine Salbe auf, die aus Fischfett, Eicheln und noch einem dritten unbekannten Substanz bestand. Ein polnischer Sanitäter, der russisch sprach, besorgte die Zutaten: "Diese Salbe" schrieb Polina Aleksejewna, "hat mir sehr geholfen. [...] die Wunden in meinem Gesicht heilten ab und die Entzündung meiner Augen ging zurück. Es ging mir allmählich besser und ich war Elena Stepanowna und dem Sanitäter, der mich behandelt hat, sehr dankbar. [...]. Aber natürlich bin ich am meisten Gott dafür dankbar, dass er mir eine solche Frau geschickt hat."

    Nach dem Einmarsch der Amerikaner in Göttingen hat Polina Aleksejewna Helena Browtschinskaja aus den Augen verloren. Sie hat sie sowohl in Göttingen als auch in dem Verteilungslager in Frankfurt an der Oder, in dem sie noch drei Monate festgehalten wurde, bis sie in ihre Heimat zurückkehren konnte, intensiv gesucht - ohne Erfolg.

    Die Einwohnermeldekarte von Helena Browtschinsky, richtig Helena Browtschinskaja - als Familienstand ist richtig verwitwet, als Religion: griech.orth. eingetragen.

  • Valentina Alexandrowna L., geb. 26.3.1931, war zehn Jahre alt, als die Deutschen im September 1941 ihre Heimatstadt Kertsch auf der Krim besetzten. Ihre Mutter war Russin und ihr Vater Jude. Sie überlebte, weil die Mutter mit den beiden "halbjüdischen" Kindern zunächst untertauchte und dann unter ihrem russischen Mädchennamen gemeinsam mit den Kindern in die Zwangsarbeit nach Deutschland geriet.

  • Auch Andrej Artjomowitsch B., geb. am 29.2.1925, der bei der Reichsbahn in Trier und Göttingen Zwangsarbeit verrichtete, erinnerte sich daran, dass auch Juden in seinem Lager lebte: "Ich weiß", schrieb er, "dass ein Junge an der Wasserkrankheit gestorben ist. An seinen Namen erinnere ich mich nicht, aber ich weiß, dass es ein Jude aus Charkow war." Unklar ist allerdings, ob sich diese Erinnerung auf Trier oder auf Göttingen bezieht.


    Es gerieten auch viele französische und sowjetische Juden in deutsche Kriegsgefangenschaft. Diese hatten jedoch nur in den seltensten Fällen, die Chance diese Gefangenschaft zu überleben, da besonders bei den sowjetischen Gefangenen die Deutschen gezielt nach (beschnittenen) Juden suchten. Von einem französischen Kriegsgefangenen, der in Göttingen auf dem Lager Lohberg als Dolmetscher tätig war, wissen wir, dass er jüdisch war, aufgrund einer entsprechenen Bemerkung auf den Fotos eines dort stationierten Soldaten: "... franz. Dolmetscher G.", steht in der Fotolegende. "Später hat sich herausgestellt, dass G. Jude war." Leider wissen wir nicht, wann dieses "später" war, ob nach dem Krieg oder noch während des Krieges. Deshalb wissen wir nichts über das Schicksal des jüdischen französischen Dolmetscher im Lager Lohberg.

    Außerdem gab es in Göttingen einen jüdischen französischen Zivilarbeiter mit dem Namen Smolinski (also eventuell ein in Frankreich lebender russischer Emigrant), der auf einer Liste des Grünflächenamtes vom 1. April 1949 auftaucht, in der die Franzosen aufgelistet sind, die exhumiert und nach Frankreich überführt wurden. Max Smolinski war am 24.1.1945 im Alter von 42 Jahren gestorben und am 31.1.1945 auf dem jüdischen Friedhof bestattet worden. Eine Sterbeurkunde von ihm gibt es im Göttinger Standesamt nicht, seine Todesursache ist daher unbekannt.


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    Quellen und Literatur:

    Leopold L., Lebenslauf vom 28.10.1952, Stadtarchiv Göttingen, Sammlungen Nr. 16/8 (unter L).

    Reg.präs. an Stadtverwaltung Göttingen 11.11.1968, Anfrage der Stadt bei der Bundesbahn 19.11.1968, Antwort Bundesbahn 10.12.1968, StadtAGö Amt für öffentliche Ordnung O XXII 11.1 Entschädigungsverfahren A-K (unter D).

    Einwohnermeldekarte Jan D...owski, geb. 1913, Helena Browtschinksy, geb. 1899, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnerregistratur.

    Fragebogen und Briefe Maria Jemeljanowa L., geb. 11.2.1926, o.D. (Eingang 10.11.2000 und 15.1.2001), Polina Aleksejewna L,. geb. 18.6.1926, o.D. (Eingang 31.1.2001, 8.8.2001, 12.9.2001), Andrej Artjomowitsch B., geb. 29.2.1925, o.D. (Eingang November 2000), Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32- Tollmien.

    Liste über die in der Zeit vom 1.9.1939 bis 1947 auf dem hiesigen Stadtfriedhof bestatteten Franzosen, o.D. (1947), Liste über die in der Zeit vom 1.9.1939 bis 22.5.1947 auf dem hiesigen Stadtfriedhof bestatteten Zivilisten französischer Nationalität o.D. (1947), Ausgrabung von 31 Frazosen am Freitag den 1. April 1949, Stadtarchiv Göttingen, Grünflächenamt C 83 Nr. 9, o.P.

    Alex Bruns-Wüstefeld, Lohnende Geschäfte. Die "Entjudung der Wirtschaft am Beispiel Göttingens", Göttingen 1997, S. 237 f., S. 257 Anm. 174.

    Ulrich Herbert, "Wiedergutmachung an NS-Verfolgten ist eine moralische Pflicht" - Die Lücken des bundesdeutschen Entschädigungsgesetzes oder warum ausländische Opfer der Nazi-Diktatur leer ausgehen, Zeitungsartikel, Frankfurter Rundschau 2.8.1988

    Peter Jahn (Hg.): Mascha + Nina + Katjuscha. Frauen in der Roten Armee 1941-1945. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Deutsch-Russischen Museums Berlin Karlshorst vom 15.11.2002-23.2.2003, Berlin 2002.

    Hanna Krall, Legoland, Frankfurt am Main 1990.

    Gisela Schwarze, Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im zweiten Weltkrieg, Essen 1997, S. 41 f.

    Cordula Tollmien, Juden in Göttingen, in: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866 - 1989 (hg. von Rudolf von Thadden und Günter J. Trittel), Göttingen 1999, S. 675-760, hier S, 751 f.

    Cordula Tollmien, ".... und die deutschen Juden machten den Weg" - Jüdische Zwangsarbeiter in Göttingen 1938-1945", Vortrag vom 7.11.2001 (Manuskript).


     


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