NS-Zwangsarbeiter: Krankenversorgung

Schon im März 1942 hatte das Reichsarbeitsministerium verfügt, dass wegen des als Folge der "Ostarbeitererlasse" vom Februar 1942 zu erwartenden massenhaften Zustroms von "russischen" Arbeitskräften und der damit verbundenen Seuchengefahr möglichst in der Nähe der Krankenhäuser Baracken für kranke Ostarbeiter aufzustellen seien. In Göttingen hatte es daher bereits im April 1942 Verhandlungen zwischen Arbeitsamt, Stadtverwaltung, Gesundheitsamt und Universität über den geeigneten Standort einer solchen Baracke gegeben. Diese Verhandlungen scheiterten jedoch zunächst, weil weder die Stadt noch die Universität eine solche Baracke verantwortlich betreiben wollten. Das Arbeitsamt schlug deshalb im Juni 1942 vor, die Krankenbaracke "an ein großes Lager der hiesigen Firmen anzuschließen" (Bericht 4.6.1942) – damit war natürlich das Lager Schützenplatz gemeint, das sich damals gerade im Bau befand. Im August 1942 schaltete sich dann die Partei unter dem Göttinger Kreisleiter Dr. Thomas Gengler ein und propagierte in einer eigens einberufenen Sitzung, an der der Rektor und der Kurator der Universität, der Prodekan der Medizinischen Fakultät, die stellvertretenden Klinikleiter und ein Vertreter des Preußischen Staatshochbauamtes teilnahmen, einen "Notstand" in den Universitätskliniken "hervorgerufen durch Zusammenlegung fremdstämmiger Kranken (sic!), namentlich aus dem Osten, mit deutschen Kranken" (Sitzung 5.8.1942). Ergebnis der Besprechung war, dass die Universität einen Bauplatz am östlichen Ende des Universitätssportplatzes (der Sportplatz befand sich dort, wo heute das Geisteswissenschaftliche Zentrum der Universität steht) zur Verfügung stellte, und Gengler sich um die Bereitstellung von drei Baracken durch die Deutsche Arbeitsfront bemühte. Die Stadtverwaltung war an dieser Sitzung übrigens nicht mehr beteiligt, die Einrichtung der Krankenbaracken für die Göttinger Zwangsarbeiter wurde allein zwischen der NSDAP, den Universitätskliniken und der Küchenvereinigung e.V. verhandelt. Eine erneute, diesmal von der Gauleitung der NSDAP weitergeleitete und wahrscheinlich wie die erste von der NSDAP selbst lancierte Beschwerde Ende Dezember 1942 über die Zusammenlegung von Deutschen mit Ausländern in den Kliniken erzeugte den notwendigen Druck zur Beschleunigung des Verfahrens.
Die Krankenbaracke wurde im Januar 1943 auf dem Universitätssportfeld aufgestellt und nahm Anfang Februar 1943 ihren Betrieb auf. Sie fasste etwa 60-70 Betten. Die offizielle Adresse dieser Baracke war Ludendorffring (das ist der Kreuzbergring) 20 b.

"Einrichtung und der laufende Betrieb einschließlich der Verpflegung und der ärztlichen Versorgung" waren ausschließlich Sache der Küchenvereinigung. (Kurator 8.1.1943). Doch war im Januar 1943 noch keine Klarheit über die ärztliche Oberleitung erzielt: Erste Überlegungen zielten auf den Kreisarzt, für die Pflege hielt man russische Feldscherer für ausreichend. Nach einigem Hin und Her erklärte sich die Universität schließlich bereit, dass "die Ärzte der Kliniken bei besonders schwierigen Krankheitsfällen beratend mitwirken". (Kurator 8.1.1943). Faktisch war es dann so, dass die Kliniken den seit Dezember 1941 in der Chirurgischen Klinik tätigen aus der Ukraine stammenden Arzt Igor N., der vor seiner Tätigkeit in Göttingen in Prag gelebt hatte und die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit besaß, für die Betreuung der Krankenbaracke abstellten. Unterstützt wurde N. von der ukrainischen Ärztin Anna Melnikowa und einer zweiten Ärztin, von der nur der Vorname Olga bekannt ist. Beide Ärztinnen lebten in der Baracke, N. war der einzige, der sowohl die Kliniken als auch die Baracke Ludendorffring 20 b betrat. Von deutschem Personal ist nur gesichert, dass abgesehen von der deutschen Lagerleiterin Maria B. die Hebamme Hanna Adelung direkt in der Baracke arbeitete, da diese seit September 1943 auch als zentrale Entbindungseinrichtung für Polinnen und "Ostarbeiterinnen" diente.

Die Baracke Ludendorffring scheint in erster Linie eine Gebär- Pflege- und Aufbewahrungseinrichtung gewesen zu sein, zumindest wurden dort keine chirurgischen Eingriffe durchgeführt. Denn selbst für kleinere Eingriffe, wie beispielsweise einen Dammschnitt, wurden die Patientinnen auf einer fahrbaren Trage in die Klinik gebracht. Die Krankenschwestern und Pfleger wurden zumindest in einigen Fällen unter den ehemals Kranken bzw. Schwangeren rekrutiert.

Siehe dazu die Erinnerungen von Stanislaw Goik.

Nach den Erinnerungen eines niederländischen Zwangsarbeiters scheint es in der Baracke Ludendorffring allerdings auch eine Art Ambulanz gegeben zu haben, das auch von Zwangsarbeitern aus Westeuropa genutzt wurde. Im Übrigen aber wurden die westeuropäischen Zwangsarbeiter von Doktor N. in den Universitätskliniken versorgt. Siehe zur Krankenbaracke auch die Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeiterinnen der Textilfabrik Schöneis, später Reichsbahn.

Nach dem Krieg wurde die Krankenbaracke Ludendorffring – wie die meisten anderen Zwangsarbeiterlager in Göttingen auch – für die DPs aus ganz Europa weitergenutzt. Im Ludendorffring waren dabei die Polen untergebracht, die das Göttinger KZ Außenlager von Buchenwald überlebt hatten.

Zusätzlich gab es auch in einigen Betrieben eine Krankenversorgung, die teilweise auch den Zwangsarbeitern zugute kam.

Nach den Erinnerungen von Nikolai Sawtschantschik praktizierte im Lager Schützenplatz zeitweise ein französischer Chirurg, sicherlich ebenfalls ein Zwangsarbeiter.

Krankenbaracke mit PflegerInnen und Ärztinnen

Dr. N. mit Stanislaw Goik (Pfleger in der Krankenbaracke) vor der Chirurgischen Klinik (wahrscheinlich nach Kriegsende)
(Die Fotos stammen von Stan Goik)

Fleckfieber

Zwei weitere Krankenbaracken für Ausländer mit je 30 Betten wurden wenig später auf einem der Wehrmacht gehörenden Gelände ebenfalls am Ludendorffring an der Ecke zum Waldweg aufgestellt. Sie fungierten als Seuchenbaracken. Diese beiden Baracken gehörten dem Arbeitsamt, wurden aber ebenfalls von der Küchenvereinigung verwaltet. Sie nahmen insbesondere die an Fleckfieber erkrankten "Ostarbeiter" und Polen und die Tuberkulosekranken aus dem gesamten Umland, einschließlich Harz und Solling, auf. Sie waren im Januar 1943 erst angefordert worden und wahrscheinlich erst Ende 1943 bezugsfertig.


Quellen:

Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen.

Bericht 4.6.1942, Sitzung 5.8.1942, Kurator 8.1.1943, Aktennotiz 6.1.1943, Gesundheitsamt 13.1.1943, Bericht 14.1.1943, Stadtarchiv Göttingen, Handakten Claassen I/15 Nr. 49, o.P. und passim; Aktennotiz 3.1.1944, ebd. Pol.Dir. Fach 74 Nr. 6, Bl. 89 v.

Hebammenbücher Hanna Adelung, Stadtarchiv Göttingen.

Zeitzeugenaussage Stan Goik, Australien (mehrere Telefoninterviews zwischen 19.1.2002 und 5.3.2003), SA 32 – Sammlung Tollmien, Stadtarchiv Göttingen; Fotos Goik, ebenda, (Foto-CD).

Geburtenbücher Göttingen, Geismar, Grone und Weende 1940-1945, Sterbebücher Göttingen 1940-1945, Standesamt Göttingen;

Cornelius J. K., Verlorene Jahre, Erinnerungen aus den Jahren 1943-1945, o.J. [2001].

 


 Impressum