NS-Zwangsarbeiter: Geburten

In Göttingen (einschließlich der damals noch selbständigen Dörfer Weende, Geismar und Grone) wurden in der Zeit zwischen September 1939 und dem 8. April 1945, an dem in Göttingen nach dem Einmarsch der Amerikaner der Krieg zu Ende war, 392 Kinder von Ausländerinnen geboren, darunter waren zwei Zwillingsgeburten. 43 (also fast 11 %) waren Kinder von sog. Rückkehrern oder Umsiedlern, also von unter der Parole „Heim ins Reich“ nach Deutschland verbrachten „Volksdeutschen“ oder „eindeutschungsfähigen“ Ausländern aus Ost- und Südmitteleuropa, die nicht zu den Zwangsarbeitern im engeren Sinne gezählt werden können. Außerdem sind insgesamt 35 weitere Ausländerinnen nicht als Zwangsarbeiterinnen anzusehen, weil sie beispielsweise schon in Göttingen waren, bevor der Krieg ihre Länder erreicht hatte, oder weil etwa bei einigen Slowakinnen oder Däninnen grundsätzliche Zweifel am Zwangscharakter ihrer Arbeit in Deutschland angebracht sind oder aber auch weil – wie bei zwei Niederländerinnen - die Ehemänner der Waffen-SS oder der Staatspolizei in den Niederlanden angehörten.

Von den 392 registrierten Ausländergeburten können also nur 314 (das sind etwa 80 %) sicher als Geburten von Zwangsarbeiterinnen angesehen werden, dabei wurden über 90 % der Kinder von Zwangsarbeiterinnen, insgesamt 283, in den Jahren 1943 bis zum 8. April 1945 geboren. Das erklärt sich zum einen durch die Radikalisierung der Deportationspraxis in Osteuropa, durch die immer mehr junge Frauen aus Polen und der Sowjetunion nach Deutschland gebracht wurden, und zum anderen durch die geänderte Politik gegenüber den Schwangeren, die bis Ende 1942 noch in ihre Heimat hatten zurückkehren können, was ihnen durch Erlass des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, vom 15. Dezember 1942 verwehrt wurde.

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Es gibt kein Foto von den in Göttingen geborenen Babys von Zwangsarbeiterinnen!

 

Von den 283 zwischen 1943 und Kriegsende in Göttingen geborenen Zwangsarbeiterkindern waren 273 Kinder von Polinnen oder Müttern aus der Sowjetunion; alle anderen Nationalitäten (zwei Französinnen, vier Belgierinnen, drei Kroatinnen und eine Serbin) fallen statistisch nicht ins Gewicht. Für sie galten zudem andere politische Rahmenbedingungen (zu Geburten und Schwangerschaften bei westlichen Zwangsarbeiterinnen siehe beispielsweise hier oder hier).

Jahr

Polen

Sowjetunion ("Ostarbeiter")

davon Westukrainer*

Gesamt

1943

51

32 (27)

5

83

1944

77

75 (63)

12

152

Bis 8.4.1945

18

20 (14)

6

38

Gesamt

146

127 (103)

23

273

*Westukrainer, die ja im Gegensatz zu den „Ostarbeitern“ wie Polen behandelt werden sollten, waren aufgrund der unsystematischen Angaben in den vorhandenen Quellen nur im Einzelfall nachweisbar. Dies liegt daran, dass den ausführenden NS-Funktionären in Göttingen dieser Unterschied in vielen Fällen wahrscheinlich gar nicht bekannt war und daher auch Westukrainer vor allem gegen Ende des Krieges häufig wie „Ostarbeiter“ behandelt wurden.

Die meisten dieser Kinder kamen in einer speziell für "Ostarbeiter" und Polen eingerichteten Krankenbaracke zur Welt (erste Geburt im Sepember 1943), einige aber auch im für Geburten, Wöchnerinnen und Säuglinge in keiner Weise eingerichteten größten "Ostarbeiterlager" Göttingens auf dem Schützenplatz (erste Geburt Ende Februr 1943, letzte Geburten Januar 1944).

68,5 % aller in Göttingen niedergekommenen „Ostarbeiterinnen“ oder Polinnen stammten aus dem Landkreis Göttingen oder anderen, weiter entfernten ländlichen Orten und nur 28,5 % kamen direkt aus Göttingen. Das erklärt auch, dass die Polinnen, die ja mehrheitlich auf dem Land eingesetzt waren, bezogen auf ihren Anteil an der Gesamtzahl der Zwangsarbeiterinnen im Deutschen Reich in der obigen Tabelle überrepräsentiert sind. Meistens kehrten die Zwangsarbeiterinnen, die vom Land kamen, nach der Geburt auch dorthin zurück und konnten in der Regel wohl auch ihren Säugling mitnehmen.

Fast alle wurden von der Hebamme Hanna Adelung auf die Welt gebracht.

Seit Frühjahr 1944 existierte in Göttingen aber auch ein Säuglings- und Kleinkindlager bei der Großwäscherei Schneeweiß (heute Steritex): 25 der in Göttingen geborenen Kinder waren in der Wäscherei Schneeweiß untergebracht – das sind etwas über 9 % aller zwischen 1943 und 1944 geborenen Kinder. Die meisten der dort untergebrachten Kinder, nämlich 16, wurden 1944 geboren, so dass bezogen auf die Geburtenzahl 1944 über 10 % der in Göttingen geborenen Kinder in das Lager Schneeweiß kamen. Natürlich ist das eine relativ kleine Zahl, und das Kinder- und Mütterlager bei der Wäscherei Schneeweiß, in das auch Mütter mit ihren Säuglingen aufgenommen wurden, die im Landkreis niedergekommen waren, und das daher insgesamt 28 Frauen mit ihren Säuglingen durchlaufen haben, war nur eine kleine Einrichtung. Es war aber die einzige derartige Einrichtung im gesamten Göttinger Raum, in dem es keine weitere Aufnahmestation für „fremdländische“ Mütter und Säuglinge und auch keine der von Himmler mit dem hochtrabenden Namen "Ausländerkinderpflegestätte" versehenen Sammelstätten gab, in der die Kinder von ihren Müttern getrennt wurden. Die Mütter arbeiteten bei Schneeweiß und eine (in der Regel die jüngste und schwächste) war jeweils abgestellt, um die Säuglinge zu versorgen.

Trotz der verglichen mit anderen Lagern vergleichsweise guten Umgebungsbedingungen bei Schneeweiß (es gab genug heißes Wasser, es gab frische Wäsche, allerdings nicht genügend nahrhafte Milch für die Säuglinge, die natürlich trotz der Anwesenheit ihrer Mütter auch emotional vernachlässigt waren) lag die Sterblichkeit in diesem Kleinkindlager bei etwa 40 %. Die durchschnittliche Säuglingssterblichkeit bei den in Göttingen geborenen Zwangsarbeiterkindern lag bei etwas über 18 %. Zum Vergleich: Die allgemeine Säuglingssterblichkeit lag in Göttingen 1944 bei 8,6 %; in dieser Zahl sind die Zwangsarbeiterkinder enthalten, die bereinigte Sterberate ohne die Zwangsarbeiterkinder betrug 1944 in Göttingen 7,7 % (incl. Totgeburten und incl. Ausländerkinder von Nichtzwangsarbeitern). Damit war die Säuglingssterblichkeit für alle in Göttingen geborenen Zwangsarbeiterkinder schon mehr als doppelt so hoch als die allgemeine Sterberate in Göttingen und das Lager Schneeweiß übertraf diese Quote noch einmal um das Doppelte. Nach dem Tod ihrer Kinder mussten die Mütter das Lager Schneeweiß verlassen.

Auch tote Kinder aus dem Kinderlager der Wäscherei Schneeweiß wurden an die Göttinger Anatomie abgegeben und dienten Göttinger Medizinstudenten als Anschauungsmaterial.

Zu den Verhältnissen im Kleinkinder- und Säuglingslager Schneeweiß im Einzelnen siehe
Cordula Tollmien, Slawko, Stanislaw und France-Marie. Das Mütter- und Kinderlager bei der Großwäscherei Schneeweiß in Göttingen 1944/45.

Siehe dazu auch die Erinnerungen einer Zwangsarbeiterin, deren Kind bei Schneeweiß starb. Darin auch Überlegungen zu den Todesursachen.

Zur Geburten und Säuglingssterberate bei sog. Umsiedlern aus Ost- und Südosteuorpa siehe hier.

Insgesamt zehn Kinder von Polinnen wurden zwischen Oktober 1940 und März 1945 in Geismar geboren (sie sind in den obigen Gesamtzahlen enthalten), sieben davon in der "Polenkaserne" in Geismar 65; eine Polin kam nach Geismar, deren Kind 1944 im Lager Schützenplatz geboren worden war. Eines dieser Kinder starb in Geismar ebenso wie zwei Kleinkinder von russischen Zwangsarbeitern, die beide auf dem Geismaraner Friedhof begraben sind.

Zwei Säuglinge starben auf dem Klostergut in Weende, einer war in der Göttinger Krankenbaracke geboren worden; zwei polnische Zwangsarbeiterinnen aus Weende hatten vor Einrichtung der Ausländerkrankenbaracke in Göttingen 1940 noch in der Frauenklink entbinden können. Direkt nach Kriegsende im April 1945 wurden auf dem Gut in Weende drei Kinder von Polinnen geboren.

Zu Abtreibungen siehe hier.

Siehe auch NS-Zwangsarbeiter: Fotos


 

Literatur:

Gisela Schwarze, Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im zweiten Weltkrieg, Essen 1997, passim.

Cordula Tollmien, Slawko, Stanislaw und France-Marie. Das Mütter- und Kinderlager bei der Großwäscherei Schneeweiß in Göttingen 1944/45, in: Andreas Frewer / Günther Siedbürger (Hg.), Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von „Ausländern“ im Gesundheitswesen, Frankfurt/M./New York 2004, S. 363-388.

Quellen:

Geburtenbuch und Sterbebuch Geismar 1940-1945, Stadtarchiv Göttingen, Standesamtliche Unterlagen.

Gemeindedirektor an Landkreis 27.7.1949, Stadtarchiv Göttingen Geismar Nr. 705, Sign. 123-51/3.

Geburtenbuch und Sterbebuch Weende 1940-1945, Stadtarchiv Göttingen, Standesamtliche Unterlagen.

Geburtenbuch Göttingen 1940-1945, Stadtarchiv Göttingen, Standesamtliche Unterlagen.

Reiter, Raimond, Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg, Hannover 1993, S. 44, S. 102, S. 182

Gisela Schwarze, Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im zweiten Weltkrieg, Essen 1997, S. 153 f.
 


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