"Rundfunkverbrechen"

Am 1. September 1939 wurde durch die "Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen" das Abhören ausländischer Rundfunksender und vor allem das Verbreiten der entsprechenden Nachrichten verboten und mit unbegrenzter Zuchthausstrafe bedroht. Dies war ein Delikt von dem natürlich hauptsächlich Deutsche betroffen waren. Schon 1941 wurden monatlich zwischen 200 und 440 Personen wegen sog. Rundfunkverbrechen festgenommen und 1942 nannte die Reichskriminalitätsstatistik für die Jahre 1939 bis 1942 fast 3000 Veruruteilungen nach der Rundfunkverordnung (für die Folgejahre fehlen die Zahlen). Natürlich waren Zwangsarbeiter quantitativ viel seltener von einer Verurteilung wegen "Rundfunkverbrechens" betroffen, aus dem einfachen Grund, weil zumindest die osteuropäischen Zwangsarbeiter in der Regel keinen Zugang zu einem Rundfunkgerät besaßen. Doch dies traf nicht für die westeuropäischen Zwangsarbeiter zu, und so findet sich in den Göttingen betreffenden Akten sowohl die Verurteilung eines holländischen Zwangsarbeiters als auch eines Franzosen, beide aus dem Jahr 1944.

Der holländische Tischler Geert E., geb. im März 1922, war im Juni 1943 als Zwangsarbeiter zur Phywe gekommen, wo er bis zu seiner Festnahme im Dezember 1943 arbeitete. Er wohnte in Grone bei einer Kriegerwitwe, die ihm auch das Radiohören erlaubte. Bei einem Besuch zweier "Arbeitskameraden" im Juli 1943 (es handelte sich um zwei belgische Zivilarbeiter), so das Urteil des Sondergerichts Hannover vom 9.6.1944, habe er erstmals das Radio auf ausländische Sender eingestellt, und bis zu seiner Verhaftung insgesamt zehnmal Auslandsnachrichten gehört. Anfang Oktober 1943 habe er einem Freund in den Niederlanden geschrieben, dass der Krieg nun bald vorbei sei, und auf diese Weise sei die "Straftat" aufgedeckt worden. Der Versuch Geert. E's seinen zwischenzeitlich nach Belgien zurückgekehrten Freunden die Schuld insofern zuzuschieben, als dass er behauptete, diese hätten ihn zum Einstellen der ausländischen Sender gedrängt, nützte ebensowenig wie das alles in allem positive Zeugnis, das ihm die Betriebsleitung der Phywe ausstellte. Geert E. wurde am 9. Juni 1944 (unter Anrechnung der Untersuchungshaft) zu einer Zuchthausstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Nach Verbüßung seiner Strafe am 1. Februar 1945 wurde er, wie häufig in solchen Fällen, nicht entlassen, sondern der Gestapo in Celle übergeben. Von da an ist über seinen weiteren Verbleib nichts mehr festzustellen, wie der Oberstaatsanwalt in Celle am 8. Mai 1950 auf die wahrscheinlich im Auftrag der Familie gestellten Suchanfrage der International Refugee Organization lapidar mitteilte.


Französischer Zwangsarbeiter, der 1944 wegen "Rundfunkverbrechen" verurteilt wurde. Er arbeitete bei Schneider & Co.

Bis zu seinem Urteil im Juni 1944 war Geert E. im Göttinger Gerichtsgefängnis inhaftiert, wo er gemeinsam mit anderen Gefangenen für die Stadt Göttingen beim Bau einer neuen Unterkunft für die Luftschutzleitung und beim Ausheben von Deckungsgräben eingesetzt war. Von dort schrieb er an seine Eltern und Geschwister bewegende Briefe, die in der Urteilsakte (mit Übersetzungen ins Deutsche) erhalten sind.
Zu Weihnachten 1943, kurz nach seiner Verhaftung, schrieb Geert E. an seinen Bruder Barteld, der ebenfalls als Zwangsarbeiter in Deutschland arbeitete und zwar in Warnemünde: "Als wir aus Holland fortgingen, wie haben Vater, Mutter und die anderen uns gewarnt, wir sollten aufpassen, aber die Reue kommt immer zu spät."
Und zwei Tage später, am 26.12.1943, schrieb er seinen Eltern und Schwestern: "Ich arbeite jetzt in der Stadt, dicht bei dem Dorf [die Phywe lag in Grone - C.T.], wo ich zuerst war. Ich will euch die Wahrheit nicht verbergen, vielleicht hat Bartelt es euch bereits geschrieben. Ich habe eine Dummheit gemacht, indem ich einen Brief schrieb, in dem zu viel stand, dafür muss ich jetzt büßen. Essen ist gut."
Und am 22. Janaur 1944 wieder an seinen Bruder:"Es ist Sonntag Mittag und wir sind heute früher frei, um 11 Uhr waren wir wieder zu Hause. Ich arbeite mit Kameraden an Luftschutzkellern und da bekommen wir auch etwas mehr zu essen. Um 6 Uhr stehen wir auf, bekommen dann Brot, Butter und Kaffee und gehen um 7 Uhr an die Arbeit. Um 9 Uhr bekommen wir wieder Brot mit Wurst oder Marmelade und Mittags Erbsensuppe. Wenn ich an zu Hause denke, könnte ich manchmal schreien, aber es ist nun einmal nicht anders.
Am 5. März 1944, nachdem er Ende Februar Besuch von seinem Anwalt erhalten hattte, der ihm einen Gerichtstermin in drei bis vier Wochen in Aussicht gestellt hatte (in Wahrheit musst Geert E. dann noch bis Juni 1944 auf sein Verfahren warten), dann ein sehr hoffnungsfroher Brief an seinen Bruder: "Morgen am 6. März wird ein Holländer freigelassen und so wird auch die Reihe an mich kommen. Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich Dir sagen, warum ich hier sitze. Ich wage nicht, es zu schreiben, aber hoffentlich kann ich es bald sagen."
Am 2. April 1944 wird er dann seinem Bruder gegenüber noch einmal ein wenig deutlicher: "Es geht mir hier noch gut, es ist hier ruhig und tags arbeite ich, was will man mehr? Aber es ist doch besser, frei zu sein, ich warne Dich nochmal, pass auf, was Du tust. Schreib keine Briefe, bevor Du nicht überdacht hast, was Du schreibst, denn nun sitzt ich hier. Arber ich halte den Kopf hoch und das musst Duch auch tun."
Sein letzter Brief an seine Familie datiert vom 16. April 1944: "Ich arbeite noch stets draußen an der frischen Luft und das ist gut. Seit einem Jahr bin ich nun in Deutschland."

Der aus Frankreich stammende Maler Louis G. war im Januar 1942 als Lackierer zu den Optischen Werken Joseph Schneider & Co in Weende gekommen, wo er nach Aussage der Betriebsleitung anderthalb Jahre zu ihrer großen Zufriedenheit arbeitete, bis er etwa ein Dreivierteljahr vor seiner Verhaftung Anfang November 1944 "ziemlich starken Verkehr mit ausländischen Zivilarbeitern innerhalb der Werkstatt hatte", was eine "starke Minderleistung" zur Folge gehabt habe. "Dieser Verkehr", so die Betriebsleitung, "wurde damals sofort von uns unterbunden. Es war dann wieder eine Leistungssteigerung zu verspüren." Trotz des auch in diesem Fall positiven Urteils der Betriebsleitung versuchte diese also deutlich, Louis G. als eine potentiellen Unruhestifter darzustellen. Ins Fadenkreuz der Ermittler war Lous G. durch eine Anzeige von einer in einem Göttinger Hotel lebenden französischen SD-Mitarbeiterin geraten, die einen französischen Kriegsgefangenen und dessen Freund, einen "Zivilfranzosen", beschuldigt hatte, regelmäßig "Feindsender" zu hören, wobei sich der im Lager Sültebeck untergebrachte französische Kriegsgefangene Notizen von den Übertragungen mache, die dann seinen Kameraden im Lager übermittele. Obwohl von der Denunziantin ein falscher Vorname angegeben worden war, wurde Louis G. aufgrund der richtigen Adresse noch am 9. November 1944, dem Tag der Anzeige vernommen, behauptete erst der französische Kriegsgefangene habe die Sender eingestellt, gab dann aber bei einer neuerlichen Vernehmung am nächsten Tag alles zu und erklärte auch, dass er das Rundfunkgerät vor etwa zwei Jahren von einem französischen Zivilarbeiter gekauft habe. Lous G. wurde daraufhin in das Göttinger Gerichtsgefängnis gebracht, der französische Kriegsgefangene in das Polizeigefängnis. Nachdem das Göttinger Gerichtsgefängnis nach einem Bombenangriff im Dezember 1944 nicht mehr nutzbar war, wurde Lous G. in das Zuchthaus Hameln verlegt. Dort wurde er durch den Gefängnisarzt auf seinen Geisteszustand untersucht, nachdem in den Akten schon nach seiner zweiten Vernehmung am 10. November 1944 vermerkt worden war: "G. macht einen äußerst beschränkten Eindruck, hatte Autounfall, Gedächtnisschwäche." Nach dem am 27. Januar 1945 ergangenen Urteil kam Louis G. ins Gerichtsgefängnis nach Hildesheim, wo er am 6. April 1945 entlassen wurde. Doch brachte diese Entlassung für ihn trotz des Kriegsendes nicht die Freiheit, sondern nur eine Einweisung in die Göttinger Landespflege- und Heilanstalt am Rosdorfer Weg eingeliefert zu werden, wo er am 26. April 1945 im Alter von erst 38 Jahren verstarb. Als offizielle Todesursache ist in der Sterbeurkunde "Devianter Verwirrtheitszustand, Entkräftung und Bronchopneumonie" angegeben. Mit "Devianz" bezeichnet man ein von der Norm abweichendes Verhalten, was dafür spricht, dass nicht so sehr die Folgen eines früheren Autounfalls, sondern sein widersätzliches Verhalten, Louis G. zum Verhängnis wurde, worauf ja auch schon die Betriebsleitung von Joseph Schneider & Co hingewiesen hatte. Der Hinweis auf eine Lungenentzündung als zusätzliche Todesursache, die sich in vielen Sterbeurkunden von Zwangsarbeitern findet, stellte dabei wahrscheinlich nur eine medizinische Absicherung dar. "Entkräftung" - eine der häufigsten Todesursachen bei Zwangsarbeitern - wurde dagegen in den seltensten Fällen offiziell in die Sterbeurkunde eingetragen. Insofern rechtfertigt diese dreifache Absicherung der Todesursache in jeder Hinsicht den Verdacht eines wodurch auch immer verursachten gewaltsamen Todes des Louis G.

 



Quellen und Literatur:

Cordula Tollmien, Zwangsarbeiter in Ämtern, Dienststellen und Betrieben der Göttinger Stadtverwaltung während des Zweiten Weltkriegs (Fassung ohne Namensnennungen), Göttingen Dezember 2000 (Manuskript im Stadtarchiv Göttingen), S. 37 f.

Aufenthaltsanzeigen Louis G., geb. 1907 (Foto), Stadtarchiv Göttingen Pol. Dir. Fach 175 Nr. 15 (alphabetisch).
Sterbeurkunde Louis G. 26.4.1945, ebenda, Sterbebücher 1945.
Rundfunkverbrechen Geert. E. und Louis G., Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover Hann 171 a Hannover Acc. 107/83 Nr. 895 und Nr. 1140.

 


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