NS-Zwangsarbeiter: Vera L., geb. 4.5.1924, deportiert 1942 (Schlachter Wiegner, nach der Geburt eines Kindes zu Schneeweiß, nach dem Tod des Kindes Landwirtschaft)

Drei der Göttinger Zwangsarbeiterinnen, die mit ihren Kindern in dem Kinderlager bei Schneeweiß untergebracht waren, arbeiteten als Hausgehilfinnen und eine in einer Gärtnerei, also auf nicht-industriellen Arbeitsstellen, wo die Unterbringung eines Säuglings zumindest denkbar gewesen wäre – andererseits war bei der räumlichen Nähe, die in den Privathaushalten und Kleinbetrieben notwendigerweise gegeben war, die Trennung der ausländischen von möglicherweise vorhandenen deutschen Kindern, auf die die zuständigen NS-Funktionäre besonderen Wert legten, nicht gewährleistet. Vera L. war eine dieser Zwangsarbeiterinnen in einem Göttinger Haushalt. Sie arbeitete bei dem Göttinger Schlachter Wiegner und schrieb mir auf meine Frage, wer entschieden habe, dass sie zu Schneeweiß müsse, dass Frau Wiegner sie bei Beginn der ersten Wehen in die Baracke Ludendorffring gebracht und anschließend darauf bestanden habe, dass sie zu Schneeweiß gebracht wurde. Vera L. berichtete von dem Sohn der Familie, der sich - noch vor ihrer Schwangerschaft - für sie eingesetzt habe, nachdem er als Soldat von einer alten Frau in der Ukraine gerettet worden sei. Danach sei sie besser verpflegt worden. Doch für die Aufnahme auch des Kindes der nützlichen Zwangsarbeiterin, die nicht nur in Haushalt und Garten, sondern auch in der Schlachterei sehr hart arbeiten musste ("ich musste sehr schwere Fleischstücke schleppen"), hat die diesbezügliche Dankbarkeit offensichtlich nicht gereicht. Obwohl formal auch für "Ostarbeiterinnen" und Polinnen ein Mütterschutz von sechs Wochen nach der Geburt bestand, mussten bei Schneeweiß auch die Mütter sofort nach ihrer Ankunft arbeiten, die mit ihren Säuglingen direkt aus der Entbindungsbaracke kamen. Vera L. erzählte, dass sie große Wäschepakete, in denen sich – ihrer Erinnerung nach - vor allem Militärkleidung von der Front befand, transportieren musste. Allgemein darf man sich die Arbeit bei Schneeweiß auf keinen Fall leichter und einfacher als in einem Industriebetrieb vorstellen: Die Frauen mussten große Kessel mit kochendheißem Wasser und Wäsche bewegen und umrühren, und auch die Weiterbearbeitung der nassen Wäsche war Schwerstarbeit. Was die Zuteilung der Arbeit anging, wurde bei Schneeweiß offensichtlich zwischen Frauen mit und ohne Kindern nicht unterschieden – es wurde jedoch jeweils eine der Mütter freigestellt, die die Aufgabe hatte, sich um die Säuglinge zu kümmern, sie zu baden und zu füttern.

Vera L. hatte den Vater ihres Kindes, einen französischen Kriegsgefangenen, der seit 1942 bei Winkel (heute ZEISS) in Göttingen arbeitete, im Frühjahr 1943 auf dem Weg von der Arbeit nach Hause kennen gelernt. Das war kurz nachdem die Kriegsgefangenen bei Winkel durch die im April 1943 mit der Vichy-Regierung ausgehandelten sog. Transformation in zivile Arbeiter umgewandelt worden waren und damit mehr Bewegungsfreiheit genossen als die bewachten Kriegsgefangenen. Die Verbindung Vera L.'s zu dem französischen Kriegsgefangenen wird wohl kaum unentdeckt geblieben sein: Zumindest Frau W., bei der sie arbeitete, wird davon gewusst haben; außerdem hat Vera L. ihr Kind sehr auffällig und ungewöhnlich "France-Marie" genannt. Dennoch ist Vera L. nach eigener Aussage nie Verhören oder auch nur Nachfragen seitens der Gestapo oder anderer NS-Stellen ausgesetzt gewesen, in denen man sie gedrängt hätte, den Namen des Vaters ihres Kindes preiszugeben. Eine solche Befragung war eigentlich Vorschrift, um die "gutrassigen" Kinder zu entdecken, die nach einer Anordnung Himmlers ihren Mütter weggenommen, in speziellen Kinderheimen der NSV untergebracht und dann zur Zwangsadoption durch Deutsche freigegeben werden sollten. Als "gutrassig" galten dabei potentiell Kinder, deren Erzeuger dem "deutschen oder dem dänischen, flämischen, niederländischen, norwegischen, schwedischen oder wallonischen Volkstum" angehörten. Mütter, die nicht in die Heimerziehung ihres "gutrassigen" Kindes einwilligten, sollten der Gestapo zugeführt werden.

Das Foto wurde kurz nach der Geburt des Kindes im Oktober 1944 aufgenommen.

Marie France, geboren am 3.10.1944, starb am 16.12.1944. Damit war sie einer der 11 Säuglinge (von insgesamt 28, die bei Schneeweiß untergebracht waren), die wenige Wochen oder Monate nach ihrer Geburt in der Schneeweißbaracke starben. Offiziell galt und gilt in der familiaren Betriebsgeschichte von Schneeweiß eine Menigitisepedemie als Ursache für die hohe Säuglngssterblichkeit bei Schneeweiß. Dabei sollten vor allem die polnischen Mütter noch zur Ausbreitung der Epedemie beigetragen haben, indem sie ihre schon von den anderen Kindern isolierten Babys zu sich zurück in die Baracke holten. Doch die Sterbeurkunden der bei Schneeweiß gestorbenen Säuglinge sprechen eine eindeutige Sprache: Es war nämlich keineswegs eine Meningitisepidemie, die vielleicht noch verschärft durch ein Fehlverhalten der Mütter, die hohe Sterbequote im Säuglingslager Schneeweiß verursacht hatte. Offiziell starb sogar insgesamt nur ein Kind bei Schneeweiß an Meningitis. Allerdings glaubt auch Vera L. bis heute, dass ihre kleine Tochter ebenfalls an Meningitis gestorben sei, obwohl in der Sterbeurkunde von France Marie als Todesursache das angegeben ist, was bei den meisten Kindern eingetragen ist: nämlich Ernährungsmangel, Ernährungsstörung oder allgemeine Vergiftung („ alimentäre Intoxikation“). Bei sieben der toten Kinder findet sich diese eindeutig auf unzureichende oder falsche Ernährung zurückgehende Todesursache,1 bei fünf Kindern (bei drei von ihnen zusätzlich zu den genannten Ernährungsstörungen) ist Lungenentzündung angegeben, auch eine Todesursache, die auf mangelnde Vorsorge und Versorgung hinweist; und nur je einmal findet sich Grippe und – wie schon gesagt – Meningitis in den Sterbeurkunden.

"Die Ernährung der Säuglinge war begrenzt" erinnerte sich auch Vera L., "und bestand mehr aus Wasser als aus Milch. Sie lagen alle in ihren Bettchen. Ich erinnere mich weder an einen Besuch von Pflegepersonal noch von unserem Chef."

Ärzte betraten das Lager Schneeweiß (fünf der Kinder starben direkt im Lager) offenbar nur, um einen Totenschein auszustellen. Immerhin sind tote Säuglinge auch beerdigt worden. Das wissen wir von Vera L. Auf meine Fragen antwortete Vera L. immer nur in kurzen und knappen Sätzen, ohne auf ihre Gefühle einzugehen. Bei allem, was ihre kleine Tochter anging, sind ihre Antworten noch zurückhaltender und reduzierter. Deshalb beschreibt sie auch nicht, wie diese Beerdigung vonstatten ging: „Ich war dabei“, ist alles, was sie über die Beerdigung sagt.

Nach dem Tod ihres Kindes musste Vera L. Schneeweiß verlassen und kam zu einem Bauern in der Nähe von Göttingen, so sie bis Kriegsende Zwangsarbeit verrichtete.

Etwas Positives gibt es allerdings doch noch zu berichten: Vera L. hat den Vater ihrer in Göttingen verstorbenen Tochter nach dem Krieg geheiratet und ist mit ihm nach Frankreich gezogen. Sie bekamen noch fünf Kinder.


 

Literatur und Quellen:

Vera L., geb. 4.5.1924, Briefe 16.9.2001, 15.10.2001, 2.2.2002, 6.11.2003 Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32- Tollmien, Korrespondenz und Fotos.

Einwohnermeldekarte Vera L., geb. 4.5.1925 (falsches Geburtsjahr muss 1924 heißen), Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnerregistratur.

Eintrag in den Geburtenbüchern 3.10.1944 und in den Sterbebüchern 16.12.1944, Stadtarchiv Göttingen, Standesamtliche Unterlagen.

Eckart Schörle, Gutachten zur Situation von "Zwangsarbeitern" bei der Firma Schneeweiß Göttingen während der Zeit des Nationalsozalismus, Göttingen im September 2000 (Manuskript im Stadtarchiv Göttingen).

Cordula Tollmien, Slawko, Stanislaw und France-Marie. Das Mütter- und Kinderlager bei der Großwäscherei Schneeweiß in Göttingen 1944/45, in: Andreas Frewer / Günther Siedbürger (Hg.), Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von „Ausländern“ im Gesundheitswesen, Frankfurt/M./New York 2004, S. 363-388.


 


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