NS-Zwangsarbeiter: Deutsche Juden

Deutsche und österreichische Juden wurden zunächst zumeist bei Baumaßnahmen der öffentlichen Hand eingesetzt. Nachdem viele Tschechen aufgrund der angedrohten Repressionen im Sommer 1939 ihre Arbeitsstellen in Deutschland verlassen oder gar nicht erst angetreten hatten, wurden Juden beispielsweise als direkter Ersatz für Protektoratsangehörige etwa beim Autobahnbau eingesetzt. Ab Mai/Juni 1940 mussten Juden und Jüdinnen dann auch in größerem Maßstab in der Rüstungsindustrie zwangsarbeiten. Die Zahl der zu Zwangsarbeit verpflichteten Juden stieg von 13 500 im Frühjahr 1939 auf 55 000 Menschen im Sommer 1941, wobei sich mit Fortschreiten des Krieges der Zwangsarbeitereinsatz von deutschen Juden vornehmlich in Berlin konzentrierte - dies nicht nur, weil Berlin ein wichtiges Rüstungszentrum war, sondern auch, weil dort die meisten deutschen Juden lebten. Im Sommer 1941 waren mehr als die Hälfte aller zwangsarbeitenden Juden im Altreich in Berliner Betrieben eingesetzt. Insgesamt 28 000 Berliner Juden und Jüdinnen waren zu diesem Zeitpunkt zwangsverpflichtet, davon 19 000 im Industrieeinsatz; 2 000 arbeiteten noch in jüdischen Stellungen.

Der Zwangsarbeitseinsatz deutscher Juden hatte sich zunächst aus dem schon der Weimarer Arbeits- und Fürsorgegesetzgebung bekannten Prinzip der Pflichtarbeit für unterstützungsbedürftige Erwerbslose entwickelt und entfaltete seine besondere Dynamik mit fortschreitender Verfolgung und insbesondere der systematischen Verdrängung der deutschen Juden aus dem Erwerbsleben ab Ende 1938. Dabei spielten neben verfolgungs- und sozialpolitischen Motiven (insbesondere der Entlastung der kommunalen Kassen von Unterstützungsleistungen für erwerbslose Juden) auch damals schon arbeitsmarktpolitische Gründe eine bedeutende Rolle.Denn trotz rigider Ausschöpfung aller Ressourcen fehlten Ende 1938 in Deutschland rund eine Million männlicher Arbeitskräfte vor allem für zentrale Rüstungsvorhaben und Bauten der Infrastruktur. Aus diesen Gründen hatte der Präsident der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Friedrich Syrup, am 20. Dezember 1938 den geschlossenen Arbeitseinsatz (soll heißen den Einsatz in gesonderten Kolonnen getrennt von anderen Arbeitern) für erwerbslose und wohlfahrtsunterstützte Juden angeordnet. Mit Erlaß des Reichsinnenministers vom 10. Januar 1939 wurden dann alle Bürgermeister und Landräte aufgefordert, geeignete Baumaßnahmen der öffentlichen Hand für den Kolonneneinsatz von Juden zu melden. Obwohl die Stadt Göttingen bereits am 7. Dezember 1938 die jüdische Gemeinde in Göttingen darüber informierte, daß das Wohlfahrtsamt in Zukunft die in Göttingen wohnenden Juden nicht mehr unterstützen würde und damit eine Reihe Göttinger Juden zwang, sich "freiwillig" bei Baufirmen zu verdingen, gab es in Göttingen zunächst noch keinen systematischen Kolonneneinsatz von Juden. Allgemein zeichnete sich jedoch schon ab Sommer 1939 eine informelle Ausweitung des Arbeitseinsatzes auch auf nicht-unterstützte Juden aus, die dazu führte, dass in manchen Städten die jüdischen Gemeinden aufgefordert wurden, vorher festgelegte Kontingente für den Arbeitseinsatz zu stellen. Wenige Tage vor Kriegsbeginn mussten dann alle Juden zwischen fünf und 70 Jahren die Formulare der Volkskartei ausfüllen, was es dem NS-Staat ermöglichte, für einen umfassenden Zwangsarbeitereinsatz jederzeit auf die ja nicht wehrpflichtigen Juden zurückgreifen zu können. Mit einem Erlass Syrups vom 4. März 1941, in dem er (gar nicht speziell auf Juden bezogen) die Arbeitsverwaltungsbehörden allgemein ermächtigte, "bei der Durchführung kriegswirtschaftlich notwendiger Arbeitsmaßnahmen Einwendungen bevölkerungs-, volkstums- und rassepolitischer Art" zu ignorieren, kam es zu einer neuen Welle von Zwangsrekrutierungen, die diesmal auch die Göttinger Juden traf:

Auf Antrag des Stadtbauamts wurden Göttinger Juden ab März 1941 in einer "Judenkolonne" zur Beseitigung von Hochwasserschäden bei der Baufirma August Drege eingesetzt und gehörten damit zu den vielen jüdischen Zwangsarbeitern, die den Unternehmen aufgrund eines von Kommunen, Ländern oder vom Staat ausgeschriebenen Bauauftrags von den Arbeitsämtern als billige Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt wurden.
Die Bauanzeige des Bauamts zur "Beseitigung der durch das Hochwasser der Leine am 4. u. 5.11. 1940 entstandenen Schäden" datiert vom 29. März 1941 und enthält bei den "am Bauvorhaben zur Zeit angesetzten Arbeitskräfte" unter der Rubrik "ausländische Arbeiter" den Eintrag: "Juden 14". Diese arbeiteten zum Teil schon seit mehreren Wochen an der Dammbruchstelle zwischen Leine und Flüte, wo zunächst eine eiserne Spundwand mit Überfallwehren eingesetzt werden mußte und anschließend größere Erd- und Betonierungsarbeiten notwendig waren. Da vier weitere Juden im Juni 1941 und einer sogar erst im März 1942 der Kolonne zugewiesen wurden, arbeiteten insgesamt 19 Göttinger Juden als Zwangsarbeiter an der Beseitigung dieser Hochwasserschäden. Bis auf zwei Ausnahmen hatten alle auch in den Jahren zuvor bereits entweder bei Drege oder anderen Göttinger Baufirmen oder aber in einer Gärtnerei gearbeitet. Auch der Lehrer der jüdischen Gemeinde Heinz Junger, der noch bis Ostern 1941 einen reduzierten Schulbetrieb für die in Göttingen verbliebenen jüdischen Kinder aufrecht erhalten hatte und daher bis zu diesem Zeitpunkt zunächst von Zwangsarbeit verschont geblieben war, arbeitete zunächst in einer Gärtnerei. Erst am 18. März 1942 wurde auch er der "Judenkolonne" bei Drege zugewiesen. Er arbeitete dort nur insgesamt drei Tage. Denn am 20. März 1942 wurden die zu diesem Zeitpunkt nur noch 15 Männer der Kolonne (drei war inzwischen wegen der Schwere der Arbeit als krank entlassen worden, einer hatte Göttingen verlassen) nach Hause geschickt, um am 26. März 1942 gemeinsam mit insgesamt 79 Göttinger Juden in die Ghettos oder Vernichtungslager nach Osteuropa deportiert zu werden. Niemand aus diesem Transport überlebte.

Die Göttinger Juden, die der "Judenkolonne" bei der Baufirma Drege angehörten:

  • Barnaß, Hans, geb. 3.3.1907 (andernorts 3.7.1907), am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 3.6.1941 bis 20.3.1942 bei Drege, vorher in der Gärtnerei Hermann Starke
  • Blach, Leopold, geb. 24.12.1891, am 26.3.1942 deportiert, unbekannt verschollen, vom 3.3.1941 bis 20.3.1942 bei Drege
  • Jacobi, Kurt, geb. 22.2.1914, am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem in das Warschauer Ghetto deportiert; vom 14.3.1941 bis 20.3.1942 bei Drege, vom 17.4. bis 24.5.1939 und 3.7. bis 31.7.1939 bei der Baufirma Ludwig Avenarius
  • Jacobs, Arno, geb. 17.4.1883, am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 3.6.1941 bis 20.3.1942 bei Drege, vorher in der Gärtnerei Ernst Lange
  • Jacobs, Julius, geb. 27.3.1890, nach Polen deportiert und dort verschollen, vom 3.3. bis 3.11.1941 bei Drege, dann krank entlassen; vom 10.1. bis 21.1.1939 und 30.11. bis 21.12.1939 auch schon bei Drege; 30.9. bis 7.10.1936 und 17.1. bis 19.3.1938 bei Avenarius, "freiwillig entlassen"
  • Junger, Heinz, geb. 10.6.1890 , am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 18.3. bis 20.3.1942 bei Drege, vorher in der Gärtnerei Florentin Koch, bis Ostern 1941 Leiter der jüdischen Schule
  • Löwenstein, Alfred, geb. 1.5.1904, am 26.3.1942 deportiert, unbekannt verschollen, vom 4.6.1941 bis 20.3.1942 bei Drege, vorher Gärtnerei Florentin Koch
  • Löwenstein, Karl, geb. 27.7.1899, am 26.3.1942 in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 27.10.1939 bis 20.3.1942 durchgehend bei Drege
  • Meininger, Kurt, geb. 15.11.1894, am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 3.4.1941 bis 9.7.1941 bei Drege, dann krank entlassen, vorher Gärtnerei Ernst Lange
  • Meyerstein, Arnold, geb. 5.4.1908, ging im Juni 1941 nach Berlin, wurde von dort nach Auschwitz deportiert, vom 20.2.1941 bis 14.6.1941 bei Drege, dann krank entlassen, vom 19.3. bis 22.4.1936 und 13.5. bis 3.7.1936 bei Avenarius, "freiwillig entlassen"
  • Meyerstein, Hugo, geb. 4.4.1891, am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 3.3.1941 bis 20.3.1942 bei Drege, vom 5.3. bis 22.5.1937 bei Firma Avenarius, "freiwillig entlassen"
  • Meyerstein, Iwan, geb. 28.6.1885 , am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 15.1.1941 bis 20.3.1942 bei Drege, vorher im Baugeschäft Gebr. Schütte Wuppertal, Baubüro Hagenweg in Göttingen
  • Meyerstein, Leopold, geb. 5.12.1892, am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 12.1. bis 20.3.1942 bei Drege, vorher auch schon bei Drege und zwar vom 15.8. bis10.11.1938 (wahrscheinlich unterbrochen durch Inhaftierung nach der Reichspogromnacht) und vom 13.2.1939 bis 21.7.1940
  • Meyerstein, Moritz, geb. 1.11.1888 in Bremke, am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 5.2.1940 bis 20.3.1942 durchgängig bei Drege
  • Meyerstein, Siegfried, geb. 15.6.1888 in Bremke, am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 29.7.1940 bis 20.3.1942, vom 4.3. bis 4.6.1937 bei Avenarius, "freiwillig entlassen", auch schon vorher (ab November 1936) und auch danach wieder bei verschiedenen anderen Baufirmen tätig
  • Meyerstein, Walter, geb. 26.1.1920, am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 30.6.1941 bis 20.3.1942 bei Drege, vorher auch schon bei Drege und zwar vom 12.7.1938 bis 10.11.1938 (wahrscheinlich unter-brochen durch Inhaftierung) und vom 23.1.1939 bis 22.3.1939
  • Neuhaus, Gustav, geb. 5.7.1884, am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 4.3.1940 bis 20.3.1942 durchgängig bei Drege
  • Nußbaum, Isidor, geb. 16.6.1887, am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 22.7.1938 bis 20.3.1942 (unterbrochen nur für die Zeit vom 12.11.1938 bis 10.1.1939, wahrscheinlich durch eine Inhaftierung nach der Reichspogromnacht) durchgängig bei Drege
  • Plaut, Isfried, geb. 27.12.1908, am 26.3.1942 über das Sammellager Hannover-Ahlem und das Durchgangslager Trawniki bei Lublin in das Warschauer Ghetto deportiert, vom 20.2.1941 bis 20.3.1942 bei Drege, arbeitete vorher bei der Firma Köster im Straßenbau

  • Alfred Loewenstein, geb. 1.5.1904, deportiert am 26.3.1942


    Kurt Meininger, geb. 15.11.1894, deportiert am 26.3.1942
    Passofots aus den Kennkarten (Stadtarchiv Göttingen)

    Bauanzeige des Bauamts vom 29.3.1941 mit dem Eintrag
    "14 Juden" in der Rubrik "Ausländische Arbeiter" (Stadtarchiv Göttingen Tiefbauamt 520, o.P.)

     

    Die Entlohnung der jüdischen Zwangsarbeiter war generell erbärmlich: Die Männer erhielten bei einem wöchentlichen Arbeitspensum von 54 Stunden einen Stundenlohn von 66 Pfennig, gegenüber 90 Pfennig, die ein ungelernter nichtjüdischer Arbeiter bekam. Hinzukam, dass sie eine Reihe von Sonderabgaben unterworfen waren, keinerlei Sozialleistungen erhielten und nur für ihre tatsächliche Arbeit bezahlt wurden. Was die Göttinger Juden tatsächlich bekamen, ist nicht bekannt.

    Von Ende 1944 bis zu ihrer Deportation nach Theresienstadt im Februr 1945 arbeiteten zwei Göttinger Juden (Ernst Benfey und Hans Jansen), die - da in "Mischehe" lebend - bisher den Deportationen entgangen waren, als Zwangsarbeiter beim Behelfsheimbau, was ein ehemaliger "Ostarbeiter" bezeugte.


    Sonderrecht für Juden

    Ausführlich zur Zwangsarbeit der Göttinger Juden:
    Cordula Tollmien, Zwangsarbeit von Göttinger Juden 1938 bis 1945, in: Göttinger Jahrbuch 59 (2011), S. 137-160.


     

    Literatur:

    Wolf Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden- Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938-1943, Berlin 1997, passim, insb. S. 61-69, S. 74-78, S. 87-95, S. 103-106, S. 109, S. 120, S. 134, S. 139 f., S. 172, S. 176, S. 180 f. (Zitat S. 180), S. 212.

    Cordula Tollmien, Zwangsarbeiter in Ämtern, Dienststellen und Betrieben der Göttinger Stadtverwaltung während des Zweiten Weltkriegs (Fassung ohne Namensnennungen), Göttingen Dezember 2000 (Manuskript), S. 30-35.

    Cordula Tollmien, Zwangsarbeit von Göttinger Juden 1938 bis 1945, in: Göttinger Jahrbuch 2012

    Cordula Tollmien, Juden in Göttingen, in: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866 - 1989 (hg. von Rudolf von Thadden und Günter J. Trittel), Göttingen 1999, S. 675-760, hier S. 724 f., S. 730.

    Zusammenstellung aus Lohnkonto- und Steuernachweiskarten von Avenarius und Drege, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung Nr. 25 Nr. 7

    Aktennotiz 7.12.1938, Stadtarchiv Göttingen Sozialamt Acc. Nr. 407/77 Nr. 47/1, o. P.

    Antrag an das Arbeitsamt 10.12.1940, Bauanzeige 29.3.1941 (Zitate), Stadtarchiv Göttingen Tiefbauamt Nr. 520; Stadtbauamt an Arbeitsamt 13.8.1941, Stadtarchiv Göttingen Tiefbauamt Nr. 511, o.P.; Bauamt an Drege 1.4.1941, Stadtarchiv Göttingen Tiefbauamt Nr. 302, o. P.; An die Kriegskameraden und Arbeitskollegen, 12.12.1940, 12.6.1941, 1.12.1941, Stadtarchiv Göttingen Bauamt Abt I Fach 1 Nr. 54 aa, o. P.
     


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