NS-Zwangsarbeit: Städtisches Betriebsamt

In den ersten Kriegsmonaten war die Stadtverwaltung Göttingen mit der Zwangsarbeiterbeschäftigung nicht direkt befasst. Doch besaß die Stadt drei Landgüter - in Geismar, Rosdorf und Niedernjesa -, die unter der Verwaltung des städtischen Betriebsamtes standen. Auf allen drei Stadtgütern arbeiteten seit Ende 1939 oder Anfang 1940 polnische Kriegsgefangene bzw. Zivilarbeiter und arbeiterinnen. Natürlich waren die Güter verpachtet: das Stadtgut Geismar an Egon Senger, Rosdorf an Gerhard Cassel und in Niedernjesa hatte die Stadt 1938 auf Betreiben der NSDAP im Rahmen des sog. Ernährungshilfswerkes eine Schweinemästerei eingerichtet, die von der NSV betrieben wurde und für die die gesamte Bevölkerung Göttingens zum Sammeln von Küchenabfällen verpflichtet war. Die städtische Verwaltung hatte also mit der Beschäftigung von Zwangsarbeitern auf ihren Stadtgütern direkt nichts zu tun, die Arbeiter mussten von den Pächtern beim Arbeitsamt angefordert werden und wurden auch von diesen in eigener Verantwortung untergebracht und verpflegt. Doch profitierte das städtische Betriebsamt von der engen Verbindung mit den Stadtgütern insofern, als es im Frühjahr 1940 zumindest zeitweise die vier polnischen Kriegsgefangenen des Stadtgutes Niedernjesa auch in den städtischen Kiesgruben und für Kokstransporte einsetzen konnte. Damit waren im März 1940 erstmals Zwangsarbeiter (vier polnische Kriegsgefangene) in einer städtischen Behörde eingesetzt, typischerweise geschah dies nur vorübergehend und "leihweise".

Göttinger Adressbuch 1937

Erst im Frühsommer 1941 hatten die ständigen Klagen des Betriebsamts über fehlende Arbeitskräfte insoweit Erfolg, dass der Müllabfuhr vier französische Kriegsgefangene aus dem Lager Sültebeck zur Verfügung gestellt wurden. Zuvor waren lediglich im September/Oktober 1940 Kriegsgefangene der Holzhandlung Adolph Hopf für das Betriebsamt tätig gewesen und hatten Holz für die mit Holzvergasern ausgestatteten städtischen Omnibusse gehackt. Diese hatte Hopf aber am 4. Oktober 1940 (also wahrscheinlich schon nach wenigen Tagen, da das Lager erst seit dem 20. September belegt war) bereits wieder zurückgezogen und auch die vier Kriegsgefangenen für die Müllabfuhr wurden schon im August 1941 dem Betriebsamt entzogen und zu Erntearbeiten kommandiert. Auf den diesbezüglichen Protest von Betriebsamtsdirekter Neumann, der die Gefangenen, da sie sich schon gut eingearbeitet hätten, unbedingt behalten wollte, erfuhr dieser vom Arbeitsamt nur, daß er nach Abschluss der Ernte einen Antrag auf erneute Zuweisung dieser Kriegsgefangenen stellen könne. Ob dies geschehen ist, kann man den Akten nicht entnehmen. Doch gibt das Betriebsamt in einer amtsintern, jeweils am 1. Juni des Jahres erhobenen Statistik über den Ausländereinsatz für die Jahre 1942 und 1943 je sechs und für 1944 sogar acht Kriegsgefangene an. Diese statistischen Angaben sind allerdings insofern unzuverlässig, als sie, wie ein Vergleich mit anderen Quellen ergab, immer nur einen punktuellen Zustand zum jeweiligen Stichdatum erheben und im übrigen etwa die beim Gas- und Wasserwerk eingesetzten Kriegsgefangenen aus unerfindlichen Gründen nicht aufgeführt werden.

Wenn man mangels anderer Quellen dennoch davon ausgeht, daß die statistischen Angaben für das Betriebsamt zutreffen, dann war allerdings von den sechs Kriegsgefangenen, die 1942 für das Betriebsamt arbeiteten, zumindest einer nicht bei der Müllabfuhr, sondern in den Kiesgruben eingesetzt und ist dort sogar zu Tode gekommen. Denn in einer für die Universitätskliniken aufgestellten Nachweisung über die im Kalenderjahr 1942 an das Anatomische Institut abgelieferten Leichen" findet sich als Herkunftsangabe für die "abgelieferten Leichen" neben verschiedenen anderen Gefangenenarbeitskommandos in Obernjesa, Rosdorf, Lenglern und auf dem Lohberg auch der Hinweis: "Gef. Arb.Kom. Kiesgrube". Dabei könnte es sich allerdings theoretisch auch um einen russischen Kriegsgefangenen gehandelt haben, von denen 1942 einige beispielsweise für das Bauamt oder in den Aluminiumwerken (aus deren Lager auch eine der Leichen für die Anatomie stammte) arbeiteten. Auf dem Lohberg befand sich 1942 ebenfalls ein russisches Kriegsgefangenenkommando.

Auch wenn nicht ganz auszuschließen ist, dass ab 1942 auch bei der Müllabfuhr russische Kriegsgefangene eingesetzt wurden, kann man mangels anderslautender Hinweise in den Akten wohl davon ausgehen, dass in Göttingen auch nach 1941 bei der Müllabfuhr nur französische Kriegsgefangene aus dem Lager Sültebeck arbeiteten. Wenn man außerdem annimmt, dass von den in der Statistik aufgeführten sechs bzw. acht Kriegsgefangenen auch in den Jahren 1942, 1943 und 1944 mindestens vier Kriegsgefangene bei der Müllabfuhr eingesetzt waren, und wenn außerdem die 15 französischen Kriegsgefangenen im Gaswerk tatsächlich durchgängig beschäftigt waren, dann arbeiteten zwischen 1941 und 1944 also durchschnittlich 19 (maximal 23) Kriegsgefangene aus dem Lager Sültebeck für städtische Betriebe. Denn in einer Statistik des Betriebsamts sind für den 1. Juni 1943 nur noch zwei "zivile Ausländer" aufgeführt, die uns beide namentlich bekannt sind

Für das Betriebsamt sind außerdem fünf ausländische Zivilarbeiter namentlich bekannt, die aus Westeuropa zur Arbeit nach Göttingen gebracht wurden: So arbeitete ab 23. April 1942 ein Holländer für das Betriebsamt als Kraftfahrer, ging aber am 20. Juni 1942 schon wieder in die Niederlande zurück. Es ist allerdings eher unwahrscheinlich, dass er aufgrund einer offiziell vom Arbeitsamt genehmigten Kündigung seines Arbeitsverhältnisses Deutschland verließ. Vielleicht nutzte auch er, wie einer der beiden im folgenden genannten, in Frankreich rekrutierten Ukrainer einen Urlaub zur Flucht:
Schon ab 27. Juli 1941 arbeitete ein "russischer staatenloser Flüchtling" ebenfalls als Kraftfahrer für die Müllabfuhr, der aus Nizza stammte und über Dijon nach Deutschland gekommen war. Untergebracht war er zwar zwischenzeitlich auch in dem "Polenlokal" Maschmühle, doch bekam er wie ein "Westarbeiter" Ende 1943 Urlaub. Diesen nutzte er für eine Parisreise, von der er nicht mehr nach Göttingen zurückkehrte. Ein weiterer der im Februar 1942 beim Betriebsamt beschäftigten insgesamt drei ausländischen Arbeiter wurde unter anderem dadurch aktenkundig, dass er sich weigerte das vorgeschriebene Polenabzeichen zu tragen, da er kein Pole, sondern Ukrainer sei. Ausweislich seiner Einwohnermeldekarte war er in Rawa geboren, das zwar in Polen lag, aber zum Zeitpunkt seiner Geburt noch zur Ukraine gehört hatte, er war also formal ein sog. Westukrainer. Da auch er aus Frankreich zum Arbeitseinsatz nach Deutschland gekommen war, entschied die Göttinger Kriminalpolizei, dass er - selbst wenn er polnischer Abstammung wäre - zum Tragen den Polenabzeichens nicht verpflichtet sei. Wie der oben genannte "russische staatenlose Flüchtling" war auch er am 24. Juli 1941 in Göttingen eingetroffen, beide waren in Dijon (also nicht in ihren Heimatstädten) an zwei aufeinanderfolgenden Tagen registriert worden und beide waren anfänglich auch gemeinsam zunächst bei einem Malermeister in der Wiesenstraße 22 und anschließend in der Gastwirtschaft Meyer im Papendiek untergebracht. Vielleicht handelte es sich dabei um einen Zufall, vielleicht kannten sich aber beide auch schon aus Frankreich und auch eine gemeinsamschaftliche freiwillige Meldung zum Arbeitseinsatz in Deutschland ist nicht auszuschließen. Beide galten den deutschen Behörden einerseits als Polen bzw. Ukrainer und andererseits als "Westarbeiter", die keiner Kennzeichnungspflicht unterlagen und Anspruch auf Urlaub hatten.
Ab Dezember 1944 arbeitete wieder ein holländischer Kraftfahrer für das Betriebsamt, und ein französischer Zivilarbeiter, der zuvor in Berlin tätig gewesen war, kam noch im März 1945 zumBetriebsamt. Er war im Lager Eiswiese untergebracht.

Hingewiesen sei außerdem auf vier italienische landwirtschaftliche Arbeiter, die ab April 1941 bis Dezember 1942 für das Betriebsamt arbeiteten.

Im März 1943 kam ein Gruppe von polnische Arbeitern zum Betriebsamt, die - so ist es jedenfalls in ihren Einwohnermeldekarte eingetragen - offensichtlich auch dort wohnten. Drei dieser Polen sind uns namentlich bekannt und da sie alle drei aus demselben Dorf stammten und am selben Tag in Göttingen eintrafen, kann man wohl davon ausgehen, dass sie das Opfer derselben Rekrutierungsmaßnahme geworden waren, die wahrscheinlich ihr gesamtes Dorf betroffen hatte. In einer Statistik des Betriebsamts sind für den 1. Juni 1943 nur zwei "zivile Ausländer" aufgeführt. Wenn die statistischen Angaben zuträfen, dann wären aus der Gruppe vom März 1943 einige schon wieder an einem anderen Einsatzort gewesen. Doch sind diese Statistik insgesamt mit Vorsicht zu genießen. Am 1. Juni 1942 waren in eben dieser Statistik vier "zivile Ausländer" aufgeführt gewesen (allein drei davon sind uns namentlich bekannt); für den 1. Juni 1944 nennt die Statistik drei "zivile Ausländer", doch umfasste diese diesmal auch den Schlachthof und das Bauamt, so dass die Zahl für 1944 eindeutig als zu niedrig erscheint. Erfahrungsgemäß kann man die Zahl der in den EInwohnermeldekarten gefundenen Polen mindestens verdoppeln, um eine einigermaßen realistische Größenordnung für den Einsatz von polnischen Zwangsarbeitern zu erhalten. Wenn man die hohe Fluktuation berücksichtigt, sollte der Fakter eher noch höher sein. Das würde bedeuten, dass die in den genannten Statistiken genannten Zahlen grundsätzlich deutlich zu niedrig sind.



Quellen und Literatur:

Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnermeldergistratur

Ausländerlisten (eingezogen 27.2.1940, gemeldet 1.3.1940), Stadtarchiv Göttingen, Geismar Nr. 716 sign. 132-17, Bl. 3 f.
Arbeitsamt Göttingen an Oberbürgermeister o. D. (Eingang 15.2.1940), Stadtarchiv Göttingen, Pol.Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 379;
zur Schweinemästerei: NSDAP an Ortspolizei 8.8.1938, Ortspolizei an Reg.präs. 23.2. 1938, Stadtarchiv Göttingen, Pol.Dir. Fach 87 Nr. 11, Bl. 18, Bl. 21; Bescheinigung 26.3.1940, Leihvertrag 8.9.1941, Stadtarchiv Göttingen, Bau-amt Abt. I Fach 9 Nr. 13, o.P.

Tollmien, Cordula, Nationalsozialismus in Göttingen (1933-1945), Dissertation Göttingen 1999, S. 144.

Bericht des Betriebsamtes o. D. (Eingang 4.4.1940), Stadtarchiv Göttingen Dep. 51 Nr. 2, o. P.

Aktennotiz 4.10.1940, Stadtarchiv Göttingen, Bauamt Abt. I Fach 16 Nr. 48, o. P.; Aktennotiz 25.4.1941 auf einem Schreiben an das Stadtbauamt (Absender unklar) 23.4.1941, Stadtarchiv Göttingen, Bauamt Abt. I Fach 16 Nr. 52, o. P.; Betriebsamt an 1. Pol.Rev. 16.5.1941, Stadtarchiv Göttingen Pol.Dir. Fach 2 Nr. 87, Bl. 193 v; Aktennotiz 12.8. 1941, Stadtarchiv Göttingen Personalamt C 21 Nr. 316, o. P.; Statistik 1.6.1942, mit Vergleichszahlen 1.6.1941, Statistik 31.5.1944 mit Vergleichszahlen 31.5.1943, Stadtarchiv Göttingen Personalamt C 21 Nr. 247.

Nachweisung über die im Kalenderjahr 1942 an das Anatomische Institut abgelieferten Leichen 18.1.1943, Niedersäschsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover, Hann 122a Nr. 3360, Bl. 2;

Betriebsamt an Ortspolizei 6.2.1942, Aktennotiz 14.2.1942 mit Randbemerkung, Stadtarchiv Göttingen Pol.Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 452, Bl. 452 v; verschiedene Einwohnermeldekarten, ebd.; Statistik 1.6.1942 mit Vergleichszahlen 1.6.1941, Statistik 31.5.1944 mit Vergleichzahlen 31.4.1944, ebd. Personalamt C 21 Nr. 247, o.P.

Aushändigung von Arbeitskarten 13.5.1942, Stadtarchiv Göttingen Pol. Dirf. Fach 124 Nr. 2, Bl. 462.

Anschütz, Janet / Heike, Irmtraud, Feinde im eigenen Land. Zwangsarbeit in Hannover im Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2000, S. 40.

Klaus Groth, Chronik der Gemeinde Rosdorf und ihrer Ortschaften, Band 2, Gudensberg-Gleichen 1988, S. 239.

Cordula Tollmien, Zwangsarbeiter in Ämtern, Dienststellen und Betrieben der Göttinger Stadtverwaltung während des Zweiten Weltkriegs, Göttingen Dezember 2000, S. 3, S. 10 f., S. 25 f., S. 75.

 


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