NS-Zwangsarbeiter: Polen

Wie schon bei der Besetzung der Tschechoslowakei marschierten auch beim Überfall auf Polen Vertreter der deutschen Arbeitsverwaltungsbehörden gemeinsam mit der Wehrmacht in Polen ein und das zum Teil an vorderster Front. Die polnischen Kriegsgefangenen wurden daher zumeist nur wenige Tage nach ihrer Gefangennahme sofort zur Arbeit ins Reich gebracht und dort (anfänglich vor allem im Osten) in der Landwirtschaft eingesetzt. Doch erkannte die NS-Führung bald, dass sich mit den Kriegsgefangenen allein der aufgrund der vielen Einberufungen entstandene Arbeitskräftemangel nicht beheben lassen würde, und so dehnte man die Arbeitskräfterekrutierung schon im September 1939 auch auf zivile Arbeitskräfte aus. In Wildwestmanier, bei Razzien und regelrechten Menschenjagden, unter Androhung von Gefängnis- oder sogar Todesstrafe brachte man bis Ende des Jahres 1939 zehntausende Polen und Polinnen als zivile Arbeitskräfte ins Reich.

In Göttingen trafen die ersten 63 polnischen Zivilarbeiter am 20. November 1939 ein. Sie wurden dem Eisenbahn- und Tiefbauunternehmen Fritz Keim zugewiesen und sollten für die Firma Oberbauarbeiten bei der Reichsbahn durchführen. Etwa zeitgleich, vielleicht auch etwas früher kamen einzelne polnische Kriegsgefangene in ein Lager in Weende und arbeiteten dort in der Landwirtschaft.

Polen arbeiteten abgesehen von der Landwirtschaft (in den damals noch selbstständigen Dörfern Weende, Grone und Geismar) vor allem bei den Göttinger Kohlenhändlern, in den holzverarbeitenden Betrieben und bei der Reichsbahn, aber nicht in den klassischen Rüstungsbetrieben. Dort ließ sich erst nach dem Warschauer Aufstand im Sommer 1944 bei den Aluminiumwerken eine größere Gruppe von Polen ausmachen. Auch in der Weender Papierfabrik Rube arbeiteten seit dem Warschauer Aufstand polnische Zwangsarbeiter und nach den Tagebucheintragungen des dienstverpflichteten ehemaligen Bibliothekars Hermann Stresau auch bei Schneider & Co. Ab spätestens November 1944 waren zivile polnische Zwangsarbeiter auch bei der Wehrmacht eingesetzt - eventuell auch dies eine Folge des Warschauer Aufstandes.

Polinnen waren vor allem in Gaststätten, in lebensmittelverarbeitenden Betrieben und in Privathaushalten, aber auch in den Universitätskliniken, in der Konservenfabrik Hillebrand oder bei der Wäscherei Schneeweiß eingesetzt.

Einzelne Polen arbeiteten auch bei den Stadtwerken, im Betriebsamt und im Städtischen Forstamt, im Heeresnebenzeugamt, in den Opel Autohallen, in der Saline Luisenhall, in verschiedenen Baubetrieben, bei Lebensmittelhändlern, in Gärtnereien (auch Polinnen), bei Schuhmachern, bei dem Holzfassbetrieb Hopf, in dem Textilbetrieb Oelsen und sogar als Drucker bei der nationalsozialistischen Südniedersächsischen Zeitung. Auch das Bauamt plante den Einsatz von Polen (und zwar gemeinsam mit Juden), scheiterte aber an den Bestimmungen, die die Kriegswichtigkeit von Bauprojekten festlegten. (Die Aufzählung ist wegen der nur teilweise erfolgten Auswertung der Einwohmermeldekarten und der nicht regelmäßigen Meldung der polnischen Zwangsarbeiter durch die Göttinger Betriebe nicht vollständig).

Insgesamt arbeiteten von November 1939 bis Kriegsende in der Stadt Göttingen (einschließlich Geismar, Grone und Weende) nach neuesten Schätzungen etwa 2200 Polen (ohne Geismar und Weende, wo sich größere landwirtschaftliche Betriebe befanden, waren es ca 1600).

Unterbringung/Lager:

  • Die ersten Arbeiter aus Polen, die am 20. November 1939 nach Göttingen kamen, waren im Lagerhaus der Firma Keim untergebracht. Weil das Lager völlig verwanzt war, wurde auf dem Gelände im September 1942 eine neue Baracke aufgestellt.
  • Von den landwirtschaftlichen Arbeitern, die in Geismar arbeiteten, waren einzelne direkt auf den Geismaraner Bauernhöfen, der Großteil von ihnen aber in der sog. Polenkaserne (Geismar 65) untergebracht.
  • Die polnischen Zwangsarbeiter auf dem Klostergut in Weende waren in der sog. Leutekaserne untergebracht.
  • Die polnischen Zwangsarbeiter der Reichsbahn waren in der Wohnbaracke Güterbahnhofstraße (nachgewiesen ab April 1941), im Groner Hof (nachgewiesen ab September 1941), im Gasthaus Sültebeck (nachgewiesen ab Oktober 1941), im Gasthaus Engel (nachgewiesen ab März 1944), im Lager Schützenplatz, das eigentlich ein Ostarbeiterlager war (nachgewiesen ab Mai 1944), Lager Masch (nachgewiesen ab September 1944), Lager Eiswiese (nachgewiesen ab September 1944) und in der Bahnhofsgaststätte (nachgewiesen ab Oktober 1944) untergebracht.
  • Die Arbeiter für die Kohlenhändler in Göttingen waren von Oktober 1941 bis Ende 1942 in der Angerstraße 3 b, im sog. Saal Dietzel untergebracht, und ab Januar 1943 im "Lager Hasengraben 22" (Groner Landstraße).
  • Die Polinnen, die im Gaststättengewerbe, in Privathaushalten oder in den Kliniken arbeiteten, waren direkt an ihren Arbeiststellen untergebracht.
  • Im Lager der Aluminiumwerke befand sich ab September 1944 eine Baracke für Polen, in der polnische Familien, die mit Beginn des Warschauer Aufstandes nach Göttingen deportiert worden waren, untergebracht waren.
  • Einzelne Polen und Polinnen, die nach dem Warschauer Aufstand deportiert worden waren, waren im Niedersächsischen Hof, Papendiek 1 untergebracht.
  • Gruppe von Rosdorfer Zwangsarbeitern

    Eine Gruppe von polnischen Zwangsarbeitern des Rittergutes Cassel in Rosdorf im Sommer 1943. Einer von ihnen (ganz links) trägt das nach den sog. Polenerlassen vorgeschriebene "Polenabzeichen".

    Polnischer Zwangsarbeiter mit Abzeichen

    Ausschnitt aus dem obigen Foto.

    Stellungnahme der Ortspolizei Göttingen zu den Arbeitsbedingungen der bei der Baufirma Keim beschäftigten polnischen Zwangsarbeiter vom 31. Januar 1940 (Stadtarchiv Göttingen Pol.Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 377)
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    Die Polenerlasse vom 8. März 1940

    Polnische Kriegsgefangene

    Fluchtwelle unter polnischen Zwangsarbeitern in Göttingen im Frühjahr 1940

    Siehe auch
    Cordula Tollmien: "Die Überwachung der polnischen Arbeitskräfte wird nach wie vor täglich ausgeübt" - polnische Zwangsarbeiter in Göttingen von November 1939 bis Frühsommer 1940, unveröffentlichtes Manuskript 2004 (mit geringfügigen Änderungen im September 2011).

    Erinnerungen ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter

    Zeitzeugenbericht über die Deportationen nach dem Warschauer Aufstand

    Polinnen im "Arbeitserziehungslager" Watenstedt

    Polen im Konzentrationslager Buchenwald

    Geburten von Kindern von Polinnen in Göttingen

    Polinnen als "Hausschwangere"

    Karrikaturen des polnischen Zwangsarbeiters Stanislaw Toegel (1905-1953), die dieser 1943 und 1945 in Göttingen anfertigte

    Zu Racheaktionen einzelner polnischer Zwangsarbeiter nach dem Krieg an NS-Funktionsträgern siehe hier.



    Quellen:

    Die obigen Schätzungen für die Anzahl der Polen beruhen auf der Auswertung und einer entsprechenden Hochrechnung von 24,12 % der insgesamt 1082 Kisten (Zahl bereinigt um Kisten mit ausschließlich typisch deutschen Namen wie Müller, Schmidt, Schulze) der alten Einwohnermeldekartei, die im Stadtarchiv Göttingen aufbewahrt wird, ergänzt durch standesamtliche Unterlagen und statistische Angaben, wie sie etwa das Ernährungsamt (Handschriftliche Statistik vom 16.11.1942-31.12. 1945, Stadtarchiv Göttingen, Ernährungsamt Nr. 50, o.P.), das Sozialamt (Schreiben 27.9.1940, Stadtarchiv Göttingen, SozialamtAcc. 434/510 Nr. 348, o.P.), das Personalamt (Liste 30.6.1942, Stadtarchiv Göttingen, Personalamt Nr. 315), das Forstamt (Schreiben vom 8.5.1943, Stadtarchiv Göttingen, Forstamt 134.00c Az (PA Nr. 1 Hä), o.P.), die Polizeidirektion (Listen, Stadtarchiv Göttingen, Pol.Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 367-371, Bl. 541-545, und die Gefängnislisten in Pol.Dir. Fach 8 Nr. 9) oder nach dem Krieg auch alliierte Institutionen (Lageraufnahme, Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover, Belgischer Suchdienst, Foto 3) erhoben haben. Für Geismar (Ausländerlisten Nr. 716, Stadtarchiv Göttingen) und das Klostergut Weende (Korrespondenz, Weende 1246 und 1247, Stadtarchiv Göttingen) sind absolute Zahlen vorhanden.

    Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnermelderegistratur.

    Polen bei Keim November 1939-September 1942, Stadtarchiv Göttingen Pol. Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 367-371, Bl. 381 f. Bl. 384, Bl. 438 v, Bl. 449, Bl. 451.

    Rundschreiben des Präs. d. LAA Nds. (Dr. Kaphahn) 21.11.1939, Stadtarchiv Göttingen, Bauamt Abt. I Fach 16 Nr. 48, o.P.

    Arbeitsamt an Oberbürgermeister 7.12.1939, Antwort 8.12.1939, Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Fach 77 Nr. 23, Bl. 157 f.
    Keim an Ernährungsamt 1.8.1940, 10.1.1942, 14.4.1942, Stadtarchiv Göttingen, Ernährungsamt Nr. 61, o.P.

    Lagerstatistik auf Anforderung der Gestapo 4.8.1944, Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Fach 124 Nr. 2 Bl. 541 f.

    Fotos Zwangsarbeiter in Rosdorf, Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien (Foto-CD).

    Zeitzeugenberichte Nikolai Iwanowitsch B. (geb, 1932), Janina L.-O. (geb. 1928), Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien.

    Literatur:

    Ulrich Herbert, Fremdarbeiter - Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin / Bonn 1985, S. 67.

    Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880-1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin / Bonn 1986, S. 124 ff.

    Dieter Maier (Hg.), Beteiligung der Arbeitsverwaltung am Zwangsarbeitereinsatz 1939-1945, Dokumentensammlung, Verwaltungsschule Weimar, o. J. (2000) (MS, zu beziehen beim DGB Göttingen), S. 106.

    Czeslaw Luczak, Polnische Arbeiter im nationalsozialistischen Deutschland während des Zweiten Weltkrieges. Entwicklung und Aufgaben der polnischen Forschung, in: Ulrich Herbert (Hg.), Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 90-105, hier S. 94.

     


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